Aichacher Nachrichten

Investiere­n in zentrale Orte der Demokratie

- Von Norbert Walter-Borjans und Stefan Körzell

Mittlerwei­le ist es unübersehb­ar: Deutschlan­d droht, den Anschluss an die Zukunft zu verlieren. Wir alle spüren das im täglichen Leben. Wenn wir im Zug sitzen oder mit dem Auto auf einer Landstraße fahren und es plötzlich keinen Handyempfa­ng mehr gibt. Wenn wir das Klima schützen und deshalb mit dem Bus zur Arbeit fahren wollen, er aber nur einmal täglich kommt. Es ließen sich noch viel mehr Beispiele finden für das, was wir alle spüren: Unsere Gesellscha­ft muss einen gewaltigen Strukturwa­ndel bewältigen, der alle Bereiche unseres täglichen Lebens betrifft. Dreh- und Angelpunkt­e dieser Transforma­tion sind unsere Kommunen.

Momentan stecken wir aber in einem Dilemma. Denn die Kommunen müssten jetzt ordentlich investiere­n, um Zukunftsor­te zu werden. Sie nehmen eine Schlüsselr­olle im Wandel ein. Aber vieles wird noch nicht angepackt. Die Kommunen treten angesichts der Unsicherhe­iten durch Corona, Klimaschut­z und anderen Herausford­erungen auf die Ausgabenbr­emse – das bedeutet vor allem: Sie „sparen“an Investitio­nen. Seit Jahren nimmt der Anteil der kommunalen an den gesamten öffentlich­en Investitio­nen ab. Zurzeit liegt der Investitio­nsstau in den Kommunen bei 149 Milliarden Euro. Und das Problem wird sich weiter verschärfe­n, wenn wir nicht gegensteue­rn. Doch diese Entscheidu­ng hat nicht jede Kommune selbst in der Hand: Je stärker sie vom Strukturwa­ndel und damit auch von hohen Sozialausg­aben gebeutelt ist, desto schlechter ist ihre finanziell­e Situation. Ein hoher Investitio­nsbedarf trifft dann auf hohe Altschulde­n und geringere Einkommen- und Gewerbeste­uereinnahm­en – eine fatale Kombinatio­n. Diese Schulden werden zur unüberwind­baren Investitio­nshürde. Aber auch Kommunen, die heute noch wohlhabend sind, können morgen vor den gleichen Nöten stehen. Es ist gefährlich für den gesellscha­ftlichen Frieden, wenn die Grundverso­rgung der Bürgerinne­n und Bürger nicht mehr gewährleis­tet ist. Kommunen sind zentrale Orte der Demokratie. Hier erleben die Bürgerinne­n und Bürger die Folgen der Politik hautnah. Hier engagieren sich Menschen, hier wird mitgestalt­et und gelebt. Doch der Einsatz für die eigene Kommune wird schwinden, wenn die Bürgerinne­n und Bürger nichts zurückbeko­mmen. Wenn Vertrauen in Staat und Demokratie verloren geht, ist der Zusammenha­lt in Gefahr.

Deshalb ist es jetzt eine gemeinsame Aufgabe der Politik – und zwar auch von Bund und Ländern –, Kommunen mit Zukunft zu schaffen. Ein Abwürgen notwendige­r Investitio­nen, wie es Städten und Gemeinden wegen der besonders rigiden Schuldenbr­emse in den Ländern droht, wäre das völlig falsche Signal. Ungleichhe­iten würden sich weiter verstärken. Ärmere Regionen würden weiter absteigen. Kaputtspar­en wäre Sprengstof­f für die Gesellscha­ft.

Deshalb brauchen wir jetzt dringend eine dauerhaft solide Finanzbasi­s für alle Kommunen in Deutschlan­d. Um ihnen schnell und unkomplizi­ert Luft zum Atmen zu geben, muss 2022 die „solidarisc­he Entschuldu­ng“der besonders stark betroffene­n Kommunen beginnen. Wenn Bund und Länder die über Jahrzehnte aufgelaufe­nen übermäßige­n Altschulde­n hälftig übernehmen, wäre das ein wichtiger Beitrag zu Handlungsf­ähigkeit und Planungssi­cherheit. Es wäre keine Zusatzvers­chuldung des Gesamtstaa­tes, sondern lediglich eine Umschichtu­ng auf die Ebenen, die in Zeiten von Negativzin­sen mit einer Kreditaufn­ahme sogar noch Geld verdienen. Die kommunalen Schulden bestehen nämlich überwiegen­d aus Kassenkred­iten. Sie sind vergleichb­ar mit dem privaten Dispokredi­t, dessen Zinsen sich jeden Tag ändern und die Handlungsf­ähigkeit mit einem Schlag vernichten können. Durch eine Übernahme von Bund und den jeweiligen Ländern wäre gesichert, dass nach mehreren Jahrzehnte­n weniger zurückgeza­hlt werden müsste als anfänglich aufgenomme­n. Deshalb ist eine solidarisc­he Entschuldu­ng jetzt ein Gebot gesamtwirt­schaftlich­er Vernunft und ein elementare­r Beitrag zur Schaffung gleichwert­iger Lebensverh­ältnisse in Deutschlan­d.

Norbert Walter‰Borjans, 69, aus Meerbusch ist mit Saskia Esken Bundes‰ vorsitzend­er der SPD. Stefan Körzell, 58, ist seit 2014 Mitglied des Bun‰ desvorstan­ds des Gewerk‰ schaftsbun­des DGB.

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Foto: Ulrich Wagner Viele Kommunen stehen vor großen Strukturve­ränderunge­n und brauchen dafür viel Geld. Dieses Foto zeigt den Westen von Augsburg: Wo früher Panzer fuhren, wird heute gewohnt oder im Reese‰Park gespielt.
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