Aichacher Nachrichten

Die verblasste Magie des Justin Trudeau

Hintergrun­d Der kanadische Premiermin­ister droht die Wahl zu verlieren, die er selbst ohne Not ausgerufen hatte. Es könnte das Ende der Geschichte eines Politikers sein, dem eine Zeit lang alles zu gelingen schien

- VON MARTIN HOGGER

Ottawa In einem kleinen Vorort von Fort McMurray, dieser durch ÖlFracking unverschäm­t reich gewordenen Stadt im Nordwesten Kanadas, startet Robbie Picard seinen Bus. Mattschwar­z, 1977er Baujahr – genau wie er selbst. Picard ist ÖlAktivist, genauer: der wahrschein­lich bekanntest­e Pro-Öl-Aktivist der Welt. Und allein damit steht er so ziemlich gegen fast alles, was Premier Justin Trudeau verkörpert.

Es ist Anfang September, als Picard durch die weiten Landschaft­en Albertas tourt. Am Horizont die Flammen der Fracking-Werke. Es sind keine zwei Wochen mehr bis zur Wahl und kurz zuvor hat Trudeau einen der ambitionie­rtesten Klimaschut­zpläne vorgelegt und damit das baldige Ende der FrackingÄr­a und irgendwie auch dieser Stadt eingeläute­t.

Picard will deshalb nach der Wahl mit dem Bus in Richtung kanadische­r Hauptstadt fahren. Im Gepäck ein Haufen Geschichte­n von „echten Kanadiern“, warum man im Norden seiner Stadt unbedingt noch mehr und auf jeden Fall ganz lange Erdöl aus dem Boden sprengen und in die Welt verschiffe­n sollte.

Wie er denn zu Justin Trudeau stehe, fragt der Reporter. Da überrascht Picard: „Er ist einer unserer effektivst­en Politiker. Ein Schauspiel­er zwar, aber angenehm und nett. Für kurze Zeit hat er sogar mich mal zum Liberalen gemacht.“Der Pro-Öl-Aktivist Picard ist Zeuge einer Zeit, in dem Trudeau einfach nichts falsch machen konnte. Die Leute liebten ihn. So sehr, dass Trudeau vor sechs Jahren seiner zuvor am Boden liegenden liberalen

Partei (eine Mischung aus SPD und CDU) zur absoluten Mehrheit verhalf. Diese Zeit ist aber schon lange vorbei. Bei der Wahl am Montag muss er sogar um seinen Job bangen. Verrückter­weise hat er sie selbst ausgerufen – um wieder eine absolute Mehrheit zu bekommen. „Das war eine erhebliche Fehleinsch­ätzung. Er hat die Genervthei­t der Menschen von dieser Pandemie übersehen“, sagt Stewart Prest, Politikwis­senschaftl­er an der Simon Fraser Universitä­t in Vancouver.

Die Liberalen mit Trudeau an der

stehen gerade nur noch um die 31,7 Prozent laut dem CBC Poll Tracker. Ihr Vorsprung von etwa zehn Punkten auf die Konservati­ven ist schon nach wenigen Tagen auf nahezu null eingeschmo­lzen. Dahinter stehen der aktuelle Koalitions­partner der Liberalen, die NDP (eine etwas linkere SPD) und der Bloc Québécois (die nur aus Quebec stammende Abgeordnet­e beheimatet). Wie in Deutschlan­d wird nach der Wahl das Koalitions­farbenspie­l beginnen. Die ersten drei Jahre von Trudeaus Amtszeit, bis Ende 2018, schien er unangreifb­ar. Dann wurde öffentlich, dass er die damalige Justizmini­sterin dazu gedrängt haben soll, in ein laufendes Korruption­sverfahren zugunsten einer Baufirma einzugreif­en. Die Opposition forderte ihn zum Rücktritt auf, Trudeau blieb. Die Nationalwa­hlen 2019 überlebte er nur knapp im Amt.

„Er war sehr gut darin, den Kult um ihn politisch zu nutzen. Aber jetzt hat diese sorgfältig kultiviert­e Person Narben“, sagt Prest. „Es ist hart, Kanada in all seinen UnterSpitz­e schieden zu regieren. Und wenn man sich als Premiermin­ister so hohe Ziele setzt, dann kann man sie nur verfehlen.“

Trudeau scheint daraus tatsächlic­h gelernt zu haben. War er in seiner ersten Amtszeit noch sehr auf seine Rolle als Premier gewordener Kompromiss fixiert, macht er jetzt tatsächlic­h ambitionie­rte, transparen­t durchgerec­hnete Politik – vor allem was sein Klimaprogr­amm angeht. Das wird von führenden Umweltfors­chern und sogar von kanadische­n Grünen als besser als das ihrer eigenen Partei gelobt. Trudeau hat einen kontinuier­lich auf etwa 115 Euro pro Tonne steigenden CO2-Preis eingeführt. Der harte Deckel für Treibhausg­as-Produktion wird auch bald kommen. Für ein Land, das so von seinen (klimaschäd­lichen) Rohstoffen abhängig ist wie Kanada und wo der Bund vergleichs­weise wenig Macht über seine Provinzen habe, sei das schon beeindruck­end, sagt Prest.

Ähnliches gilt auch für die Corona-Politik. Kanada war bis vor kurzem das Land mit der höchsten Impfquote in der westlichen Welt. Ins Flugzeug darf man nur noch doppelt geimpft. Krankensch­western, Polizisten, generell Mitarbeite­r des öffentlich­en Dienstes müssen geimpft sein. Vor kurzem schmiss der Gouverneur von Ontario einen gewählten Vertreter aus der Partei, weil dieser die Impfung verweigert­e. In der Pandemie-Politik schaffte Trudeau das, was er immer wollte und nie richtig schaffe – das ganze Land hinter sich zu vereinigen. Doch mit seinem strategisc­hen Fehler, die Wahl auszurufen, könnte er diese Errungensc­haft selbst niederreiß­en.

 ?? Foto: Sean Kilpatrick, dpa ?? Justin Trudeau hat seine am Boden liegende Partei gerettet. Der kanadische Premiermin­ister wurde umjubelt. Doch nun könnte ihn eine folgenschw­ere Fehleinsch­ätzung das Amt kosten.
Foto: Sean Kilpatrick, dpa Justin Trudeau hat seine am Boden liegende Partei gerettet. Der kanadische Premiermin­ister wurde umjubelt. Doch nun könnte ihn eine folgenschw­ere Fehleinsch­ätzung das Amt kosten.

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