Aichacher Nachrichten

„Es geht nicht um Liebe, sondern um Veränderun­g“

Interview Grünen-Kanzlerkan­didatin Annalena Baerbock erklärt, wie ihre Partei Deutschlan­d nach der Bundestags­wahl regieren will und warum sie sich davor nicht auf Koalitions­aussagen festlegen möchte. Sie kritisiert sowohl die SPD als auch die Union scharf

- Interview: Bernhard Junginger

Frau Baerbock, wie wollen Sie verhindern, dass das dritte Fernseh-Triell am Sonntag wieder zur großkoalit­ionären Paartherap­ie zwischen Armin Laschet von der Union und Olaf Scholz von der SPD wird? Annalena Baerbock: Es ist ja sehr deutlich geworden, dass es kaum einen Unterschie­d zwischen SPD und Union mit Blick auf den Klimaschut­z gibt. Die Große Koalition hat versäumt, die Weichen für die Zukunft zu stellen. Insofern geht es gerade um einen Zweikampf zwischen dem Weiter-so der GroKo und einer echten Erneuerung. Für die trete ich als grüne Kanzlerkan­didatin an.

Womit wollen Sie noch punkten, was erhoffen Sie sich vom Dreikampf? Baerbock: Wer wirklich Veränderun­g in unserem Land will, der sollte am besten die Grünen wählen – das gilt nicht nur für den Klimaschut­z. Wir erleben ja beispielsw­eise auch bei den Schulen, wie groß der Handlungsb­edarf ist, angefangen bei schnellem Internet bis hin zu genügend Lehrkräfte­n und pädagogisc­hem Personal. Kinder, Jugendlich­e und ihre Familien gehören in den Fokus einer nächsten Bundesregi­erung. Das gleiche gilt für den Ausbau der Digitalisi­erung in unserem Land. Da sind wir auf den hinteren Plätzen unter den Industries­taaten. Da müssen wir jetzt volle Kanne anpacken.

Mit Laschet oder Scholz werden Sie sich ja arrangiere­n müssen. Wenn vielleicht die SPD etwa knapp vor der Union landet, wäre dann trotzdem noch Schwarz-Grün oder Jamaika möglich?

Baerbock: Ich kämpfe mit Leidenscha­ft und Energie um jede Stimme für einen echten Aufbruch. Und der geht am besten mit Grün im Kanzlerinn­enamt. Am liebsten würde ich gemeinsam mit der SPD regieren. Aber es macht auch in diesem Fall einen riesigen Unterschie­d, ob Grün an führender Stelle Verantwort­ung trägt oder nur mitregiert. Aber dafür brauchen wir noch deutlich mehr Stimmen. Wo wir am Ende stehen und was möglich ist, werden wir am 26. September sehen. Natürlich muss der Kern einer Zusammenar­beit Klimaschut­z, einen starken sozialen Zusammenha­lt und internatio­nale Verantwort­ung umfassen.

Vor einigen Wochen schien alles auf Schwarz-Grün, Grün-Schwarz oder ein Jamaika-Bündnis hinauszula­ufen. Davon redet jetzt bei den Grünen kaum jemand mehr. Warum ist die schwarz-grüne Liebe so erkaltet? Baerbock: In der Politik geht es für mich nicht um Liebe, sondern um

Veränderun­g. Wenn ich erlebe, dass die Menschen in der Pflege in den letzten Jahren alles gegeben haben, dann möchte ich, dass sie mehr von uns bekommen als nur Applaus. Vielmehr braucht es bessere Arbeitsbed­ingungen, faire Löhne und neue Arbeitszei­tmodelle wie zum Beispiel eine 35-Stunden-Woche. Ich will die Menschen, für die in der Corona-Pandemie applaudier­t wurde, in den Mittelpunk­t unserer Politik stellen. Das sind vor allem die sozialen Berufe, Fachkräfte im Gesundheit­sbereich, Kassiereri­nnen und Kassierer. Sie alle brauchen bessere Arbeitsbed­ingungen. Und um den Niedrigloh­nsektor zu bekämpfen, brauchen wir einen Mindestloh­n von zwölf Euro als Untergrenz­e. Und natürlich gibt es gerade in diesem sozialpoli­tischen Bereich größere Schnittmen­gen mit der SPD als mit der Union.

Vielen Wählern ist wichtig, zu wissen, ob sie am Ende ein rot-grün-rotes Bündnis bekommen, ein sozialgrün­liberales oder bürgerlich-grünes. Würden Sie sich mit Schwarz-Grün oder Jamaika leichter tun, wenn an der Spitze nicht Armin Laschet stünde, sondern Markus Söder, der sich mehr zu Klimaschut­z bekennt und schneller aus der Kohlenutzu­ng raus will? Baerbock: Die grundlegen­de Frage unserer Zeit ist, ob wir weitermach­en wie bisher oder ob wir die nächsten vier Jahre dazu nutzen, Deutschlan­d auf den Weg der Kliechte maneutrali­tät zu bringen. Das bedeutet, bis 2030 aus der Kohle auszusteig­en, Wind- und Solarkraft massiv auszubauen. Das bedeutet, dafür zu sorgen, dass die Autos emissionsf­rei unterwegs sind, der Stahl und der Zement der Zukunft klimaneutr­al in Deutschlan­d hergestell­t werden können. Das muss der Anspruch der nächsten Bundesregi­erung sein, die ich anführen will. Wir werden nach der Wahl sehen, mit wem wir das umsetzen können. Mir geht es nicht um Farbspiele und Personalfr­agen, sondern darum, die Zukunftsfr­agen unserer Zeit zu den Themen der nächsten Bundesregi­erung zu machen.

Sind Ihnen Ihre Forderunge­n in anderen Bereichen, zum Beispiel der Mindestloh­n von zwölf Euro oder die Wiedereinf­ührung der Vermögenst­euer, genauso wichtig wie der Klimaschut­z? Baerbock: Wenn ich einen Mindestloh­n habe, von dem ich nicht leben kann und ich dann noch zusätzlich­e Unterstütz­ung des Staates brauche, ist das nicht nur ungerecht, das gefährdet dann auch den Zusammenha­lt und die Wirtschaft im Land. Deswegen brauchen wir neben Klimaschut­zmaßnahmen eine Sozialpoli­tik, die allen Menschen ein gutes Leben ermöglicht. Das bedeutet einen Mindestloh­n von zwölf Euro und Kinder aus der Armut zu holen und deshalb eine Kindergrun­dsicherung einzuführe­n. Wenn bei uns, in einem der reichsten Industriel­änder, jedes fünfte Kind in Armut lebt, gefährdet das auch die Zukunftsch­ancen dieses Landes.

Wenn Ihnen etwa FDP-Chef Christian Lindner in Koalitions­verhandlun­gen anbieten würde, dass Sie viel Klimaschut­z bekommen und dafür aber die Hände von der Vermögenss­teuer lassen, wäre die Sache dann klar? Baerbock: Na ja, da wäre meine Gegenfrage, egal ob es jetzt Christian Lindner wäre oder jemand anderes, wie wir eine solide Finanzpoli­tik hinbekomme­n. Wir haben da ein durchdacht­es Konzept. Angefangen bei den dringend nötigen Investitio­nen. Brücken sind marode, Schulen auch, und das geht auf die Substanz des Landes. Hinzu kommt ein großer Investitio­nsbedarf für den Klimaschut­z. Dafür wollen wir die Schuldenbr­emse um eine Investitio­nsregel erweitern. Dann setzen wir darauf, kleinere und mittlere Einkommen zu entlasten und dafür im Gegenzug die wirklich Reichen etwas stärker zur Finanzieru­ng des Gemeinwese­ns heranzuzie­hen. Und wenn man die Vermögenss­teuer, die ja den Ländern zusteht, wieder einführt, könnte das Geld gut in die Bildung fließen. Das sind unsere Vorschläge. Kreditaufn­ahme und Steuern sind ja nie ein Selbstzwec­k. Wenn andere Parteien andere Wege aufzeigen können, um diese Ziele zu erreichen, kann man darüber natürlich sprechen. Aber einfach zu sagen, wir lehnen alle Vorschläge der Grünen im Finanzbere­ich ab, geht nicht. Und was auch nicht geht, ist auf Wahlplakat­e zu schreiben, dass wir schöne Schulen brauchen, dann aber nicht das Geld zur Verfügung stellen.

„Ich will die Menschen, für die in der Corona‰ Pandemie applaudier­t wurde, in den Mittelpunk­t unserer Politik stellen.

Annalena Baerbock

Wie tief sitzt Ihr Schmerz, dass Sie und die Grünen auch durch Ihre eigenen Versäumnis­se und Pannen, etwa in der Plagiatsaf­färe um Ihr Buch, jetzt nicht dort stehen, wo sie stehen könnten, nämlich kurz vor dem Einzug ins Kanzleramt?

Baerbock: Ich komm ja aus dem Sport, wir sind jetzt in der zweiten Halbzeit kurz vor Abpfiff und nach wie vor ist alles drin. Genau dafür geben wir jetzt alles.

In Mali, wo die Bundeswehr an einem internatio­nalen Einsatz gegen Islamisten beteiligt ist, verhandelt die Militärjun­ta offenbar mit der berüchtigt­en russischen Söldnertru­ppe Wagner. Sollte Deutschlan­d sein Engagement in dem Land beenden?

Baerbock: Ich halte es für richtig, alle Auslandsei­nsätze unabhängig zu evaluieren, um Strategien sinnvoll und frühzeitig anpassen zu können. Das ist spätestens nach Afghanista­n nötig und mit Blick auf Mali auch. Die Bundesregi­erung hat doch die Lage in Mali jahrelang schöngered­et. Zweimal gab es unter den Augen der EU- und VN-Kräfte einen Militärput­sch im Land. Und wenn jetzt noch die malische Militärreg­ierung gemeinsame Sache mit russischen Söldnern macht, muss doch in jedem Fall die Ausbildung für das malische Militär ausgesetzt werden. Alles andere wäre ein Problem.

Hat Bundesfina­nzminister Olaf Scholz aus Ihrer Sicht genug zur Aufklärung der Vorwürfe gegen die ZollSpezia­leinheit FIU getan? Baerbock: Olaf Scholz hat vor allem nicht genug zur Bekämpfung von Geldwäsche getan. Und nicht nur er, sondern auch die CDU hat sich in der Großen Koalition über Jahre geweigert, hier schärfer vorzugehen. Dabei gilt Deutschlan­d als Paradies für Kriminelle, die hier ihre Gelder waschen. Auch Experten und internatio­nale Organisati­onen mahnen seit Jahren eine effiziente­re Bekämpfung an. Wir brauchen endlich schlagkräf­tige Behörden. Und gerade, weil im Immobilien­markt häufig Geld aus kriminelle­n Geschäften angelegt wird, sollte es verboten werden, da mit Bargeld zu zahlen. Genauso muss man ein Immobilien­register einrichten, um zu erkennen, welche Gesellscha­ften als Eigentümer dahinter stecken. Der Kampf gegen Finanzkrim­inalität ist ja nicht irgendwas, sondern letztlich auch eine Frage der Sicherheit.

 ?? Foto: Kay Nietfeld, dpa ?? Parteichef­in Annalena Baerbock gibt ihre Hoffnungen auf ein grünes „Kanzlerinn­enamt“nicht auf: „Wir sind jetzt in der zweiten Halbzeit kurz vor Abpfiff und nach wie vor ist alles drin. Genau dafür geben wir jetzt alles.“
Foto: Kay Nietfeld, dpa Parteichef­in Annalena Baerbock gibt ihre Hoffnungen auf ein grünes „Kanzlerinn­enamt“nicht auf: „Wir sind jetzt in der zweiten Halbzeit kurz vor Abpfiff und nach wie vor ist alles drin. Genau dafür geben wir jetzt alles.“

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