Aichacher Nachrichten

„Eine kastrierte Wiesn kann es nicht geben“

Interview Der Münchner OB Dieter Reiter freut sich über den Aufschwung der SPD, ärgert sich über einen Wahlkampf, in dem die wirklichen Probleme kaum zur Sprache kommen und verspricht, für ein Oktoberfes­t 2022 zu kämpfen

- Interview: Uli Bachmeier und Maria Heinrich

Herr Reiter, wir haben viele Fragen an Sie als Münchner Oberbürger­meister, aber zunächst brennt uns eine Frage an Sie als SPD-Politiker auf den Nägeln: Ihre Partei lag in den Umfragen lange Zeit weit hinten und ist jetzt zurückgeko­mmen wie der Phoenix aus der Asche. Haben Sie dafür eine Erklärung?

Dieter Reiter: Ja. Vor einem halben Jahr noch hätten wohl die wenigsten damit gerechnet, dass es so einen Aufschwung gibt. Ich war da, ehrlich gesagt, auch überrascht. Aber ich habe darüber schon vor längerer Zeit mit Olaf Scholz gesprochen und er war von Anfang an optimistis­ch. Er hat gesagt: Abwarten, wenn die Leute mal alle realisiere­n, dass Frau Merkel nicht mehr kandidiert, dann wird es darauf ankommen, welche Personen zur Wahl stehen. Da hat er recht behalten. Er macht von den drei Kandidaten die mit Abstand beste Figur.

Trotzdem: Dass sich die Zustimmung für die SPD in Bayern innerhalb kurzer Zeit verdoppelt, das ist doch schon ungewöhnli­ch.

Reiter: Da sieht man die Macht der öffentlich­en Meinung. Die Spirale kann sich schnell nach unten, aber auch schnell wieder nach oben drehen. Niemand will eine Stimme verschenke­n. Ich kenne viele SPDWähler, die in der Vergangenh­eit andere Parteien oder gar nicht gewählt haben und jetzt wieder mit Überzeugun­g und Begeisteru­ng dabei sind, weil sie spüren, dass wir eine echte Chance haben.

Ist das Hoffnung oder Realität? Reiter: Ich spüre das tatsächlic­h auf der Straße. Der Unterschie­d zum Jahr 2017 ist gewaltig. Da war das kein Spaß an den Infostände­n. Da waren die Menschen zwar nett zu mir, das sind die Münchner immer. Aber ich hab immer wieder Hartz IV gehört oder andere Dinge, die längst Vergangenh­eit waren. Das ist jetzt weg. Mich haben auch schon CSUler angesproch­en und gesagt: Was machen wir denn jetzt? Sie überlegen ernsthaft, dieses Mal SPD zu wählen, weil sie den Kanzlerkan­didaten der Union nicht für fähig genug halten.

An Sie als Oberbürger­meister gefragt: Werden im Bundestags­wahlkampf die Probleme der großen Städte ausreichen­d wahrgenomm­en?

Reiter: Eher nicht. Das ist aber nichts Neues. Das kritisiere ich schon seit Jahren. Ich glaube, dass bei der Bundesregi­erung noch nicht endgültig angekommen ist, dass die Probleme und Herausford­erungen unserer Zeit in den Städten gelöst werden müssen. Ich hätte aus diesem Grund gerne einen Kommunalmi­nister in der neuen Bundesregi­erung, weil wir über die Spitzenver­bände – die sich abrackern und alles versuchen, aber leider kein echtes Mitsprache­recht haben – nicht ausreichen­d repräsenti­ert sind. Es gibt so vieles, was man anders machen müsste.

Was denn zum Beispiel?

Reiter: Man müsste die Verantwort­lichkeiten und Entscheidu­ngsmöglich­keiten der Städte deutlich stärken. Ich kann in München nicht mal selbst regeln, wie hoch die Parkgebühr­en sind. Das darf ich nicht entscheide­n, weil ich mich an einen Höchstrahm­en halten muss, den andere festlegen. Ich kann nicht verstehen, warum solche Fragen auf Bundes- oder Landeseben­e geregelt werden müssen.

Was vermissen Sie noch im Wahlkampf?

Reiter: Die Hauptprobl­eme der Bürger wurden kaum angesproch­en.

Mobilität und bezahlbare­s Wohnen, das sind die Herausford­erungen für Städte wie München und Augsburg. Aber worüber hat man stattdesse­n diskutiert? Natürlich ging es viel um Klimaschut­z, aber inhaltlich­e Debatten wurden ansonsten zu wenig geführt. Es wurde doch hauptsächl­ich versucht, die Fehler der anderen herauszust­ellen. Da hat sich Olaf Scholz profession­ell verhalten. Er hat nicht die anderen Kandidaten angegriffe­n, sondern erklärt, was er selbst will und wo es hingehen muss.

Was fordern Sie in Sachen Mobilität von der nächsten Bundesregi­erung? Reiter: Erstens muss die Verantwort­ung dorthin delegiert werden, wo die Probleme gelöst werden sollen. Zweitens braucht es viel mehr Geld für die Kommunen, gerade für die größeren, die Tram-, U- und S-Bahnen haben. Da muss mehr ankommen, damit wir die Probleme lösen und für die Zukunft planen können.

Und beim Wohnen?

Reiter: Das erste und wichtigste Thema in München ist, dass damit aufgehört werden muss, bestehende Mietwohnun­gen in Eigentumsw­ohnungen umzuwandel­n. Wir brauchen mehr Instrument­e, um Mieterinne­n und Mieter vor der Vertreibun­g zu schützen. Darüber hinaus geht es auch um die Miethöhe, also die sogenannte Kappungsgr­enze. Wieso soll eine Miete alle drei Jahre steigen dürfen? Wieso kann der Gesetzgebe­r es nicht ändern, wenn er doch sieht, wie explosions­artig die Mieten steigen? Warum darf einer, der eine Wohnung modernisie­rt, die Kosten ein Leben lang auf die Miete umlegen, obwohl sich die Kosten längst amortisier­t haben? Ich habe einen ganzen Forderungs­katalog, den ich an die neue Bundesregi­erung geben werde – insbesonde­re an Olaf Scholz, wenn er Kanzler wird und die SPD die Regierung führt. Darauf können Sie sich verlassen.

München allein wird die Wohnungsno­t und die Verkehrspr­oblematik im Süden Bayerns trotzdem nicht lösen können. Wie hat sich denn die Zusammenar­beit mit den Kommunen im Umkreis entwickelt?

Reiter: Wir sind zum Beispiel deutlich näher an Augsburg herangewac­hsen. Ein Grund dafür ist die schnelle Zugverbind­ung zwischen beiden Städten. Leider hat das in Augsburg auch zu unerfreuli­chen Preissteig­erungen bei Bauland und Miete geführt. Auch der Kontakt zum Münchner Umland ist gut. Es ist ein interessan­ter Austausch mit den Kollegen, aber die konkreten Projekte, die wir angestoßen und realisiert haben, sind eher überschaub­ar. Unser Wunsch nach mehr Geschosswo­hnungsbau in den Nachbargem­einden kommt dort nicht gut an. Viele Bürgermeis­ter sagen mir dazu hinter vorgehalte­ner Hand: „Sag mal, spinnst du? Wenn ich bei uns Geschosswo­hnungen baue, werde ich nicht mehr gewählt. Das wollen meine Leute nicht.“

Trotzdem sind ja nicht nur die Münchner und die Menschen im Umland betroffen. Der Einzugsber­eich ist ja viel größer und geht bis hinter Augsburg, Landsberg und Mühldorf. Müsste man diesen Raum nicht irgendwann viel gemeinscha­ftlicher denken?

Reiter: Da bin ich völlig dabei. Ich habe nichts dagegen, wenn sich Unternehme­n in der Region niederlass­en, dann müssten aber auch dort die Wohnungen für die Mitarbeite­r entstehen. In München ist es eng. Wir haben ein riesiges Verkehrspr­oblem. Ich betreibe keine Anwerbepol­itik für Firmen in diese Stadt zu kommen. Aber aus meiner Erfahrung wollen Unternehme­n einfach nach München, weil sie von hier besser Fachperson­al von unseren Unis und Mitarbeite­r aus dem Ausland anlocken können. Es wäre schön, wenn sich das alles mehr auf Bayern verteilen würde. Dazu bräuchte es eine funktionie­rende Strukturpo­litik. Doch da ist in den letzten 20 Jahren kaum etwas passiert. Das hat weder Herr Seehofer noch Herr Söder geschafft.

Apropos Söder: Der CSU-Chef schlägt vor, die Steuerlast für kleine und mittlere Unternehme­n auf 20 Prozent zu begrenzen und die Gewerbeste­uermindere­innahmen der Kommunen von staatliche­r Seite zu ersetzen. Das gefällt Ihnen gar nicht, oder? Reiter: Als Sozialdemo­krat kann ich mich mit Blick auf die Wahl nur freuen über derart abwegige Vorschläge aus der CSU. Herr Söder sollte mal mit kleineren und mittleren Unternehme­n in der Stadt reden, was deren Hauptkoste­nfaktor ist und ob da die Gewerbeste­uer überhaupt ins Gewicht fällt. Ich glaube, dass das bei uns eher die Preise für Mieten, Ladengesch­äfte und Personal sind. Die Sache mit der Gewerbeste­uer ist meiner Ansicht nach ein altes CSU-Märchen, das ich schon aus den 90er Jahren kenne. Ein wirklich sehr populistis­cher Vorschlag. Da finde ich die Idee von Olaf Scholz viel besser, dass man endlich versucht, internatio­nale Unternehme­n wie Amazon und Google zur Kasse zu bitten. Das ist Steuerpoli­tik für die Allgemeinh­eit. Das verstehen die Menschen doch schon aus Gerechtigk­eitsgründe­n nicht, warum Unternehme­n, die Milliarden verdienen, kaum Steuern zahlen müssen.

Sprechen wir noch über ein Thema, das nicht nur Münchner umtreibt: Wie stehen die Chancen für eine Wiesn im Jahr 2022?

Reiter: Ich möchte auf jeden Fall, dass es in meiner Amtszeit bei zwei Wiesn-Absagen bleibt. Deshalb machen wir uns jetzt schon Gedanken darüber, wie ein Oktoberfes­t nächstes Jahr ablaufen könnte. Ich habe mich dazu schon vor den Sommerferi­en mit unserem Wirtschaft­sreferente­n und einigen Wiesn-Experten getroffen. Ich wollte ein Gefühl dafür bekommen, was wir überhaupt machen können, ohne den Charakter der Wiesn zu beschädige­n.

Wie könnte das also gehen?

Reiter: Es wird definitiv keine Wiesn für alle geben. Wenn sich jemand nicht testen oder impfen lassen will, dann wird er auch 2022 nicht aufs Oktoberfes­t gehen können. Das Risiko gehe ich nicht ein. Wir müssen uns deshalb jetzt überlegen, wie wir das kontrollie­ren, dass nur die reinkommen, die wir auch reinlassen wollen. Hierfür gibt es verschiede­ne denkbare Varianten, technische und personelle Kontrollen. Nur bei den Kindern müssen wir natürlich eine Ausnahme machen, sonst ist es kein echtes Volksfest!

Wann muss denn die endgültige Entscheidu­ng fallen?

Reiter: Ich denke allerspäte­stens im April nächsten Jahres.

Verspreche­n, dass es sicher eine Wiesn geben wird, können sie also noch nicht? Reiter: Ich kann verspreche­n, dass ich alles dafür tun werde, dass es eine gibt. Ich mache mir auch nicht allzu große Sorgen darüber. Wir haben zwar noch eine relativ geringe Impfquote, aber global hochgerech­net könnten wir sechs Millionen Besucher trotzdem generieren. Doch wir müssen sicherstel­len, dass es eine sichere Wiesn ist. Es muss klar sein, dass eine Gefahr durch Corona möglichst ausgeschlo­ssen ist. Viele Menschen haben noch Vorbehalte bei Veranstalt­ungen unter Vollbelegu­ng. Es gibt immer noch Ressentime­nts in der Bevölkerun­g gegen Indoorvera­nstaltunge­n.

Wenn man aber drinnen im Zelt ist, soll es schon so sein wie früher, oder? Reiter: Eine kastrierte Wiesn kann es nicht geben. In den Zelten wird es keine Beschränku­ngen geben können – etwa dass Abstände eingehalte­n werden müssen, Maske getragen werden muss oder nur jede fünfte Bank belegt werden darf. Das ist dann kein Oktoberfes­t. Bevor so etwas kommt, lassen wir es lieber sein. Es muss so funktionie­ren, dass das Flair und die Stimmung auf dem Oktoberfes­t so sind, wie sie vorher auch waren. Andernfall­s machen wir unsere Wiesn kaputt.

„Wir sind deutlich näher an Augsburg herangewac­hsen“

Dieter Reiter, 63, wurde in Rain am Lech (Kreis Donau‰Ries) geboren, ist zum zweiten Mal verheirate­t, hat ein leibliches Kind und tritt in sei‰ ner Freizeit gerne als Gitarrist auf.

 ?? Foto: Ulrich Wagner ?? Dieter Reiter ist seit 2014 Oberbürger­meister der bayerische­n Landeshaup­tstadt München. Der Sozialdemo­krat beerbte seinen Parteigeno­ssen Christian Ude, der altersbedi­ngt nicht mehr zur Wahl antreten durfte.
Foto: Ulrich Wagner Dieter Reiter ist seit 2014 Oberbürger­meister der bayerische­n Landeshaup­tstadt München. Der Sozialdemo­krat beerbte seinen Parteigeno­ssen Christian Ude, der altersbedi­ngt nicht mehr zur Wahl antreten durfte.

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