„Ich wäre für so einen Boykott zu haben“
Interview Felix Neureuther kritisiert die Vergabe-Praxis der Olympischen Spiele. Der ehemalige Weltklasse-Athlet äußert sich zudem zu einer möglichen Kandidatur als DOSB-Präsident – und bringt ein neues Schulfach ins Gespräch
Felix Neureuther: Wir hatten ja das große Glück, in Garmisch-Partenkirchen mitten in den Bergen aufzuwachsen. Der Opa meiner Mutter hatte die Winklmoosalm, die Eltern meines Vaters ein Berghaus. Als Kinder waren die Berge unser Spielplatz. So entwickelst du natürlich ein großes Bewusstsein für die Natur. Uns ist jede Blume beigebracht worden, jeder Pilz, jeder Baum, alle Gipfel.
Sie könnten also noch heute Pilze sammeln und unfallfrei alles essen, was Sie gesammelt haben?
Neureuther: Klar. Wir gehen jetzt auch mit unseren Kindern in die Pilze. Das ist wie Schatzsuche, das lieben die total.
Dann haben Sie ja allein in Ihrer Lebenszeit hautnah erlebt, wie sehr der Klimawandel die Natur verändert hat.
Neureuther: Ich habe ja schon immer Dinge angesprochen, die ich nicht gutgeheißen habe. Das war schon in der Schule so, wenn es um Ungerechtigkeiten gegenüber Klassenkameraden ging. Diese Einstellung begleitet mich bis heute. Klimatechnisch bin ich noch nicht sehr alt, aber ich habe auf allen Gletschern, die ich besucht habe, Jahr für Jahr sehen können, wie dramatisch schnell sie sich zurückziehen. Wo früher Eis und Schnee lagen, findest du heute nur noch Geröll und Steine. Man spürt ja nicht, ob die Temperatur in einem Jahr ein halbes Grad höher ist. Gletscher reagieren da ganz anders. Da hast du das Gefühl, dass dein bester Kumpel dich verlässt. Allein wenn ich daran denke, wie die Gletscher in Hintertux oder Saas-Fee vor 20 Jahren ausgeschaut haben und wie sie jetzt ausschauen – das ist schon krass.
Wintersportler bewegen sich da ja immer auch in einem Spannungsfeld: Sie sind sehr naturbewusst, greifen aber auch stark in die Natur ein, zum Beispiel mit der künstlichen Beschneiung. Neureuther: Alle, die sich im Wintersport engagieren, müssen sich neu orientieren. Es geht nicht darum, noch größere Massen in die Skigebiete zu bekommen, sondern darum, diese Menschen möglichst naturschonend zu betreuen und eine CO2-neutrale Bilanz zu ermöglichen. Da ist jedes Wintersportgebiet gefordert. Im Mölltal gibt es zum Beispiel Stauseen, wo mit Wasser Energie generiert wird. An der künstlichen Beschneiung von Skipisten wird man auch nicht vorbeikommen, der Strom dafür müsste aber aus erneuerbaren Energien stammen. Die Wintersportregionen müssen natürlich auch die finanziellen Möglichkeiten aufbringen können, solche Innovationen umsetzen zu können. Das wäre dann wieder eine Aufgabe der Politik. Der Ausstieg aus den Kohlekraftwerken wird ja auch subventioniert. Als oft kritisierter Skifahrer möchte ich auch anmerken dürfen, dass ein MallorcaUrlauber einen größeren klimatischen Fußabdruck hinterlässt als ein Skiurlauber.
Trotzdem steht vor allem der Wintersport am Pranger.
Neureuther: Das stimmt und ist teilweise auch berechtigt. Andererseits ist der Ski- und Wintersport in den Alpen Lebensgrundlage von Millionen von Menschen und Familien. Kinder für Natur und Berge zu beerreicht man nun mal im Winter am besten. Daher darf man die Berge nicht verschließen oder den Skilauf verbieten. Man muss aber Lösungen finden, damit wir den Sport und den Naturschutz bestmöglich in Einklang bringen.
Werden Ihre Kinder die Berge noch so erleben können, wie Sie sie erlebt haben?
Neureuther: Nein. Allein schon, weil die Gletscher in Zukunft verschwinden werden und die Schneefallmengen nachlassen. Tief verschneite Landschaften wird es nur noch lokal und eher für kurze Zeit geben.
Wie wird sich das auswirken? Neureuther: Wenn man bedenkt, dass die Alpen das größte Süßwasserreservoir in Europa sind und die Gletscher deren größte Kammer, dann kann man sich ungefähr denken, welche dramatische Folgen dieser Ausfall haben wird. In erster Linie für die Pflanzen- und Tierwelt, aber auch für uns Menschen. Die großen Flüsse entspringen alle in den Alpen. Wenn dort durch den Wegfall der Gletscher zu wenig Wasser gespeichert wird, hat das für alle enorme Auswirkungen, besonders für die Landwirtschaft. Aber solange noch an jedem Wochenende Müllberge in den Bergen von Ausflüglern hinterlassen werden, scheint es mit dem Bewusstsein der breiten Masse noch nicht weit her zu sein.
Verspüren Sie noch Optimismus, dass die Menschheit dieses Problem in den Griff bekommt?
Neureuther: Der Mensch ist in der Not ja oft so kreativ, dass er auch schwierigste Probleme lösen kann. Schauen Sie nur, wie schnell wir einen Corona-Impfstoff entwickelt haben oder wie schnell auf einmal die E-Mobilität umgesetzt wird. Wir müssen uns alle nur unserer Verantwortung für die nächsten Generationen bewusst sein. Es geht da aktuell ja gar nicht mehr um uns, sondern um unsere Kinder und Kindeskinder.
Was halten Sie von dem Argument, dass das vergleichsweise kleine Deutschland wenig am Lauf der Dinge ändern könnte?
Neureuther: Als Europas Wirtschaftsnation Nummer eins sollten wir Vorreiter sein. Nicht nur aus ideellen Gründen, sondern weil wir dadurch auch unseren Wirtschaftsstandort und unseren Wohlstand erhalten können.
Haben Sie denn das Gefühl, dass die Politik das begriffen hat? Neureuther: Wir brauchen nicht drumherum reden: Auf dem Gebiet hat die Politik viel versäumt. Es musste erst eine Greta Thunberg aus Schweden kommen, um viele Menschen zu mobilisieren. Dadurch wuchs der Druck auf die Politik, die bekanntermaßen erst dann reagiert, wenn Wähler abwandern. Auch wenn ich jetzt die Debatten vor der Bundestagswahl sehe: Da haut jeder nur auf den anderen drauf, anstatt miteinander und im Konsens an die Zukunft zu denken.
Was wäre denn ein konkreter Ansatz? Neureuther: In der Schulpolitik zum Beispiel: Warum gibt es noch kein Fach „Natur und Umwelt“? Darin würde ich auch die Themen wie Bewegung und Ernährung integrieren. Das sind doch die Themen der Gegenwart und Zukunft. Es gibt ja genügend Statistiken dazu, dass immer mehr Kinder sich zu wenig bewegen und adipös werden. Durch Corona hat das eine noch dramatischere Dimension erfahren. Diese Fehlentwicklungen wirken sich – wie beim Klima übrigens – im Laufe des ganzen Lebens aus. Die Zahl der psychisch kranken Kinder wächst ebenfalls enorm. Auch diese Probleme könnte man am besten durch Bewegung und Sport in der Schule oder im Verein lösen. Aber das Schulfach Sport wird immer noch stiefmütterlich behandelt. Dabei könnte der Wintersport gerade bei uns in Bayern bei Lösungen mithelfen, wenn Kinder in die Natur gehen, sich bewegen, soziale Kontakte bekomgeistern, men. Ich habe aber schon selbst gemerkt: In der Bildungspolitik mit seinen föderalen Strukturen etwas zu verändern, ist fast ein Ding der Unmöglichkeit.
Sie halten ja in vielerlei Hinsicht ein Plädoyer dafür, alles etwas maßvoller zu gestalten. Mit Olympia 2022 in Peking vollendet das IOC aber erst einmal die Trilogie an Winterspielen, die für Gigantismus und Verschwendung stehen. Und das findet das IOC alles in allem offenbar auch ganz großartig. Neureuther: Es macht ja durchaus Sinn, gewinnorientiert zu denken. Aber ich bin mir sicher, dass das noch besser gelingen würde, indem man zum Beispiel die Zahl der Wettkämpfe und Wettkampfstätten reduzieren würde. Oder für Skiabfahrten keine Berge mehr abgeholzt werden dürfen, sondern der Erhalt der Natur ein ausschlaggebendes Kriterium wäre. Oder die Kosten und Belastungen für die Veranstalter reduziert würden. Bei solch nachhaltigen Vorgaben würden die Athleten auch wieder in den Mittelpunkt rücken und sich die Menschen eines Landes freuen können, wenn sie den Zuschlag für solche Spiele bekommen.
Also müsste man Themen wie Nachhaltigkeit und Menschenrechte viel konkreter und verpflichtender in den Vergaberichtlinien verankern? Neureuther: Man müsste die Richtlinien so umschreiben, dass nur noch die Orte Olympische Spiele bekommen, die dafür geeignet sind und wo die Menschen sich nachhaltig über das Erbe dieser Spiele freuen können. München mit seinen Sommerspielen von 1972 ist ein hervorragendes Beispiel. Peking mit seinen Eingriffen in die Natur und mit den menschenrechtlichen Problemen hätte nach meinen Vergabe-Anforderungen sicher keinen Zuschlag bekommen.
Das werden in den kommenden Monaten auch viele Athleten zu spüren bekommen, die auf diese Fehlentwicklungen angesprochen werden. Neureuther: Leider sitzen in der Athletenkommission des IOC oft keine Sportler, die diese Forderungen auch vehement umsetzen wollen. Die Angst, den Platz in der Kommission zu verlieren, ist da offenbar zu groß. Andererseits sollten große Sportorganisationen wie ein DOSB viel größeren Druck auf das IOC ausüben, um zu zeigen, dass sie mit den Werten, die solche Spiele vermitteln, nicht einverstanden sind. Wenn ein DOSB zum Beispiel mit Rückendeckung der Bundeskanzlerin sagen würde: Wir kommen nicht zu Olympischen Spielen, wenn Menschenrechte nicht eingehalten, Nachhaltigkeitsauflagen nicht erfüllt werden oder Teilnehmer vor Ort im Quarantänefall keine Möglichkeiten haben, vom DOSB oder der Botschaft anständig betreut zu werden – dann hätte das schon eine andere Dimension. Das kann aber nur gelingen, wenn auch die Politik hinter einem solchen Schritt stünde und garantiert, dass der Leistungssport für die Ausfälle entschädigt wird, die ihm durch den Verzicht entstehen.
Aber schnallt man den Athleten da nicht die Fehler auf, die andere vor Jahren bei der Vergabe begangen haben?
Neureuther: Ich wäre für so einen Boykott zu haben. Ich würde aber verstehen, wenn sich andere Sportler total dagegen wehren. Andererseits bin ich fest davon überzeugt, dass sich viele diesem Thema verschreiben würden, wenn sie erkennen würden, dass sie damit tatsächlich etwas verändern können. Die Sportler sollten in jedem Fall nicht die Leidtragenden sein. Das gelänge aber wie gesagt nur, wenn sich Politik,
„Das Gefühl, dass dich dein bester Kumpel verlässt“
„Die Zahl der psychisch kranken Kinder wächst“
„Die Sportler sollten nicht die Leidtragenden sein“
DOSB und Athleten einig sind. Das wäre auch eine Aufgabe und eine Herausforderung für den neuen DOSB-Präsidenten. Ich würde einen solchen Schritt jedenfalls angehen.
Würden Sie das Amt des DOSB-Präsidenten perspektivisch anpeilen? Neureuther: Wenn ich das Gefühl habe, ich könnte wirklich etwas zum Positiven verändern – dann wäre ich dabei. Aber in Kenntnis der derzeitigen Verbandsstrukturen sehe ich da wenig Chancen.
Was müsste sich ändern? Neureuther: Das klare Bekenntnis der Politik und der großen Fachverbände, an der Struktur des Leistungssports in Deutschland etwas verändern zu wollen. Dazu gehört beispielsweise, Breitensport und Leistungssport klar zu trennen, so wie es früher beim NOK war. Der Leistungssport sollte nach Leistungskriterien strukturiert sein und nicht von gewählten Funktionären, sondern von Profis geführt werden. Wir sehen ja beim Deutschen Fußball-Bund, wo das Fehlen dieser klaren Trennung hingeführt hat. Ich weiß, dass es sich da um eine Mammutaufgabe handelt. Im Sinne des Sports und der Athleten wäre es das aber wert.
● Felix Neureuther ist ehemaliger Skirennläufer und Vater zweier Kinder. Der 37Jährige ist mit der ehemaligen Biathletin Miriam Gössner verheiratet. Vor Kurzem hat er ein Buch und eine TVDoku mentation („Rettung für die Alpen“) produzieren lassen, letztere debü tiert am 20. September auf National Geographic. (AZ)