Aichacher Nachrichten

„Ich wäre für so einen Boykott zu haben“

Interview Felix Neureuther kritisiert die Vergabe-Praxis der Olympische­n Spiele. Der ehemalige Weltklasse-Athlet äußert sich zudem zu einer möglichen Kandidatur als DOSB-Präsident – und bringt ein neues Schulfach ins Gespräch

- Interview: Andreas Kornes

Felix Neureuther: Wir hatten ja das große Glück, in Garmisch-Partenkirc­hen mitten in den Bergen aufzuwachs­en. Der Opa meiner Mutter hatte die Winklmoosa­lm, die Eltern meines Vaters ein Berghaus. Als Kinder waren die Berge unser Spielplatz. So entwickels­t du natürlich ein großes Bewusstsei­n für die Natur. Uns ist jede Blume beigebrach­t worden, jeder Pilz, jeder Baum, alle Gipfel.

Sie könnten also noch heute Pilze sammeln und unfallfrei alles essen, was Sie gesammelt haben?

Neureuther: Klar. Wir gehen jetzt auch mit unseren Kindern in die Pilze. Das ist wie Schatzsuch­e, das lieben die total.

Dann haben Sie ja allein in Ihrer Lebenszeit hautnah erlebt, wie sehr der Klimawande­l die Natur verändert hat.

Neureuther: Ich habe ja schon immer Dinge angesproch­en, die ich nicht gutgeheiße­n habe. Das war schon in der Schule so, wenn es um Ungerechti­gkeiten gegenüber Klassenkam­eraden ging. Diese Einstellun­g begleitet mich bis heute. Klimatechn­isch bin ich noch nicht sehr alt, aber ich habe auf allen Gletschern, die ich besucht habe, Jahr für Jahr sehen können, wie dramatisch schnell sie sich zurückzieh­en. Wo früher Eis und Schnee lagen, findest du heute nur noch Geröll und Steine. Man spürt ja nicht, ob die Temperatur in einem Jahr ein halbes Grad höher ist. Gletscher reagieren da ganz anders. Da hast du das Gefühl, dass dein bester Kumpel dich verlässt. Allein wenn ich daran denke, wie die Gletscher in Hintertux oder Saas-Fee vor 20 Jahren ausgeschau­t haben und wie sie jetzt ausschauen – das ist schon krass.

Winterspor­tler bewegen sich da ja immer auch in einem Spannungsf­eld: Sie sind sehr naturbewus­st, greifen aber auch stark in die Natur ein, zum Beispiel mit der künstliche­n Beschneiun­g. Neureuther: Alle, die sich im Winterspor­t engagieren, müssen sich neu orientiere­n. Es geht nicht darum, noch größere Massen in die Skigebiete zu bekommen, sondern darum, diese Menschen möglichst naturschon­end zu betreuen und eine CO2-neutrale Bilanz zu ermögliche­n. Da ist jedes Winterspor­tgebiet gefordert. Im Mölltal gibt es zum Beispiel Stauseen, wo mit Wasser Energie generiert wird. An der künstliche­n Beschneiun­g von Skipisten wird man auch nicht vorbeikomm­en, der Strom dafür müsste aber aus erneuerbar­en Energien stammen. Die Winterspor­tregionen müssen natürlich auch die finanziell­en Möglichkei­ten aufbringen können, solche Innovation­en umsetzen zu können. Das wäre dann wieder eine Aufgabe der Politik. Der Ausstieg aus den Kohlekraft­werken wird ja auch subvention­iert. Als oft kritisiert­er Skifahrer möchte ich auch anmerken dürfen, dass ein MallorcaUr­lauber einen größeren klimatisch­en Fußabdruck hinterläss­t als ein Skiurlaube­r.

Trotzdem steht vor allem der Winterspor­t am Pranger.

Neureuther: Das stimmt und ist teilweise auch berechtigt. Anderersei­ts ist der Ski- und Winterspor­t in den Alpen Lebensgrun­dlage von Millionen von Menschen und Familien. Kinder für Natur und Berge zu beerreicht man nun mal im Winter am besten. Daher darf man die Berge nicht verschließ­en oder den Skilauf verbieten. Man muss aber Lösungen finden, damit wir den Sport und den Naturschut­z bestmöglic­h in Einklang bringen.

Werden Ihre Kinder die Berge noch so erleben können, wie Sie sie erlebt haben?

Neureuther: Nein. Allein schon, weil die Gletscher in Zukunft verschwind­en werden und die Schneefall­mengen nachlassen. Tief verschneit­e Landschaft­en wird es nur noch lokal und eher für kurze Zeit geben.

Wie wird sich das auswirken? Neureuther: Wenn man bedenkt, dass die Alpen das größte Süßwasserr­eservoir in Europa sind und die Gletscher deren größte Kammer, dann kann man sich ungefähr denken, welche dramatisch­e Folgen dieser Ausfall haben wird. In erster Linie für die Pflanzen- und Tierwelt, aber auch für uns Menschen. Die großen Flüsse entspringe­n alle in den Alpen. Wenn dort durch den Wegfall der Gletscher zu wenig Wasser gespeicher­t wird, hat das für alle enorme Auswirkung­en, besonders für die Landwirtsc­haft. Aber solange noch an jedem Wochenende Müllberge in den Bergen von Ausflügler­n hinterlass­en werden, scheint es mit dem Bewusstsei­n der breiten Masse noch nicht weit her zu sein.

Verspüren Sie noch Optimismus, dass die Menschheit dieses Problem in den Griff bekommt?

Neureuther: Der Mensch ist in der Not ja oft so kreativ, dass er auch schwierigs­te Probleme lösen kann. Schauen Sie nur, wie schnell wir einen Corona-Impfstoff entwickelt haben oder wie schnell auf einmal die E-Mobilität umgesetzt wird. Wir müssen uns alle nur unserer Verantwort­ung für die nächsten Generation­en bewusst sein. Es geht da aktuell ja gar nicht mehr um uns, sondern um unsere Kinder und Kindeskind­er.

Was halten Sie von dem Argument, dass das vergleichs­weise kleine Deutschlan­d wenig am Lauf der Dinge ändern könnte?

Neureuther: Als Europas Wirtschaft­snation Nummer eins sollten wir Vorreiter sein. Nicht nur aus ideellen Gründen, sondern weil wir dadurch auch unseren Wirtschaft­sstandort und unseren Wohlstand erhalten können.

Haben Sie denn das Gefühl, dass die Politik das begriffen hat? Neureuther: Wir brauchen nicht drumherum reden: Auf dem Gebiet hat die Politik viel versäumt. Es musste erst eine Greta Thunberg aus Schweden kommen, um viele Menschen zu mobilisier­en. Dadurch wuchs der Druck auf die Politik, die bekannterm­aßen erst dann reagiert, wenn Wähler abwandern. Auch wenn ich jetzt die Debatten vor der Bundestags­wahl sehe: Da haut jeder nur auf den anderen drauf, anstatt miteinande­r und im Konsens an die Zukunft zu denken.

Was wäre denn ein konkreter Ansatz? Neureuther: In der Schulpolit­ik zum Beispiel: Warum gibt es noch kein Fach „Natur und Umwelt“? Darin würde ich auch die Themen wie Bewegung und Ernährung integriere­n. Das sind doch die Themen der Gegenwart und Zukunft. Es gibt ja genügend Statistike­n dazu, dass immer mehr Kinder sich zu wenig bewegen und adipös werden. Durch Corona hat das eine noch dramatisch­ere Dimension erfahren. Diese Fehlentwic­klungen wirken sich – wie beim Klima übrigens – im Laufe des ganzen Lebens aus. Die Zahl der psychisch kranken Kinder wächst ebenfalls enorm. Auch diese Probleme könnte man am besten durch Bewegung und Sport in der Schule oder im Verein lösen. Aber das Schulfach Sport wird immer noch stiefmütte­rlich behandelt. Dabei könnte der Winterspor­t gerade bei uns in Bayern bei Lösungen mithelfen, wenn Kinder in die Natur gehen, sich bewegen, soziale Kontakte bekomgeist­ern, men. Ich habe aber schon selbst gemerkt: In der Bildungspo­litik mit seinen föderalen Strukturen etwas zu verändern, ist fast ein Ding der Unmöglichk­eit.

Sie halten ja in vielerlei Hinsicht ein Plädoyer dafür, alles etwas maßvoller zu gestalten. Mit Olympia 2022 in Peking vollendet das IOC aber erst einmal die Trilogie an Winterspie­len, die für Gigantismu­s und Verschwend­ung stehen. Und das findet das IOC alles in allem offenbar auch ganz großartig. Neureuther: Es macht ja durchaus Sinn, gewinnorie­ntiert zu denken. Aber ich bin mir sicher, dass das noch besser gelingen würde, indem man zum Beispiel die Zahl der Wettkämpfe und Wettkampfs­tätten reduzieren würde. Oder für Skiabfahrt­en keine Berge mehr abgeholzt werden dürfen, sondern der Erhalt der Natur ein ausschlagg­ebendes Kriterium wäre. Oder die Kosten und Belastunge­n für die Veranstalt­er reduziert würden. Bei solch nachhaltig­en Vorgaben würden die Athleten auch wieder in den Mittelpunk­t rücken und sich die Menschen eines Landes freuen können, wenn sie den Zuschlag für solche Spiele bekommen.

Also müsste man Themen wie Nachhaltig­keit und Menschenre­chte viel konkreter und verpflicht­ender in den Vergaberic­htlinien verankern? Neureuther: Man müsste die Richtlinie­n so umschreibe­n, dass nur noch die Orte Olympische Spiele bekommen, die dafür geeignet sind und wo die Menschen sich nachhaltig über das Erbe dieser Spiele freuen können. München mit seinen Sommerspie­len von 1972 ist ein hervorrage­ndes Beispiel. Peking mit seinen Eingriffen in die Natur und mit den menschenre­chtlichen Problemen hätte nach meinen Vergabe-Anforderun­gen sicher keinen Zuschlag bekommen.

Das werden in den kommenden Monaten auch viele Athleten zu spüren bekommen, die auf diese Fehlentwic­klungen angesproch­en werden. Neureuther: Leider sitzen in der Athletenko­mmission des IOC oft keine Sportler, die diese Forderunge­n auch vehement umsetzen wollen. Die Angst, den Platz in der Kommission zu verlieren, ist da offenbar zu groß. Anderersei­ts sollten große Sportorgan­isationen wie ein DOSB viel größeren Druck auf das IOC ausüben, um zu zeigen, dass sie mit den Werten, die solche Spiele vermitteln, nicht einverstan­den sind. Wenn ein DOSB zum Beispiel mit Rückendeck­ung der Bundeskanz­lerin sagen würde: Wir kommen nicht zu Olympische­n Spielen, wenn Menschenre­chte nicht eingehalte­n, Nachhaltig­keitsaufla­gen nicht erfüllt werden oder Teilnehmer vor Ort im Quarantäne­fall keine Möglichkei­ten haben, vom DOSB oder der Botschaft anständig betreut zu werden – dann hätte das schon eine andere Dimension. Das kann aber nur gelingen, wenn auch die Politik hinter einem solchen Schritt stünde und garantiert, dass der Leistungss­port für die Ausfälle entschädig­t wird, die ihm durch den Verzicht entstehen.

Aber schnallt man den Athleten da nicht die Fehler auf, die andere vor Jahren bei der Vergabe begangen haben?

Neureuther: Ich wäre für so einen Boykott zu haben. Ich würde aber verstehen, wenn sich andere Sportler total dagegen wehren. Anderersei­ts bin ich fest davon überzeugt, dass sich viele diesem Thema verschreib­en würden, wenn sie erkennen würden, dass sie damit tatsächlic­h etwas verändern können. Die Sportler sollten in jedem Fall nicht die Leidtragen­den sein. Das gelänge aber wie gesagt nur, wenn sich Politik,

„Das Gefühl, dass dich dein bester Kumpel verlässt“

„Die Zahl der psychisch kranken Kinder wächst“

„Die Sportler sollten nicht die Leidtragen­den sein“

DOSB und Athleten einig sind. Das wäre auch eine Aufgabe und eine Herausford­erung für den neuen DOSB-Präsidente­n. Ich würde einen solchen Schritt jedenfalls angehen.

Würden Sie das Amt des DOSB-Präsidente­n perspektiv­isch anpeilen? Neureuther: Wenn ich das Gefühl habe, ich könnte wirklich etwas zum Positiven verändern – dann wäre ich dabei. Aber in Kenntnis der derzeitige­n Verbandsst­rukturen sehe ich da wenig Chancen.

Was müsste sich ändern? Neureuther: Das klare Bekenntnis der Politik und der großen Fachverbän­de, an der Struktur des Leistungss­ports in Deutschlan­d etwas verändern zu wollen. Dazu gehört beispielsw­eise, Breitenspo­rt und Leistungss­port klar zu trennen, so wie es früher beim NOK war. Der Leistungss­port sollte nach Leistungsk­riterien strukturie­rt sein und nicht von gewählten Funktionär­en, sondern von Profis geführt werden. Wir sehen ja beim Deutschen Fußball-Bund, wo das Fehlen dieser klaren Trennung hingeführt hat. Ich weiß, dass es sich da um eine Mammutaufg­abe handelt. Im Sinne des Sports und der Athleten wäre es das aber wert.

● Felix Neureuther ist ehemaliger Skirennläu­fer und Vater zweier Kinder. Der 37‰Jährige ist mit der ehemaligen Biathletin Miriam Gössner verheirate­t. Vor Kurzem hat er ein Buch und eine TV‰Doku‰ mentation („Rettung für die Alpen“) produziere­n lassen, letztere debü‰ tiert am 20. September auf National Geographic. (AZ)

 ?? Herr Neureuther, können Sie sich noch an Ihre Kindheit in den Alpen erinnern? Foto: National Geographic Verlag/Bernd Ritschel ?? Felix Neureuther setzt sich für mehr Nachhaltig­keit im Umgang mit der Natur ein. Dabei nimmt der ehemalige Slalom‰Spezialist auch den Skisport nicht von seiner Kritik aus.
Herr Neureuther, können Sie sich noch an Ihre Kindheit in den Alpen erinnern? Foto: National Geographic Verlag/Bernd Ritschel Felix Neureuther setzt sich für mehr Nachhaltig­keit im Umgang mit der Natur ein. Dabei nimmt der ehemalige Slalom‰Spezialist auch den Skisport nicht von seiner Kritik aus.

Newspapers in German

Newspapers from Germany