Als Ischgl im CoronaChaos versank
Ende November soll im Tiroler Urlaubsort wieder die Skisaison beginnen. Dort, wo sich im März 2020 das Virus rasend schnell verbreitete – mit verheerenden Folgen. Nun werden die Ereignisse von damals vor Gericht aufgearbeitet. Der erste Tag endet für die Kläger mit einer Enttäuschung
Alexander Klauser ist ein gefragter Mann an diesem Freitagvormittag. Der Anwalt steht an der Balustrade über der stuckverzierten, ehrwürdigen Aula des Wiener Justizpalastes und gibt ein Interview nach dem anderen. Der Andrang ist groß. Journalistinnen und Journalisten aus halb Europa wollen von ihm wissen, was er von der Verhandlung erwartet, welche Chancen er sich für jene ausrechnet, die er vertritt. Es ist der Auftakt zum ersten gerichtlichen Nachspiel der Ischgl-Affäre.
Tausende Geschädigte jener schicksalhaften Geschehnisse vom März 2020 im Tiroler Paznauntal setzen ihre Hoffnungen in die Bemühungen des Anwalts, der für den Verbraucherschutzverband VSV die Republik Österreich zur Verantwortung ziehen will. Für das aus ihrer Sicht offenkundige „Multiorganversagen auf allen Ebenen“, das von Ischgl ausgehend zu rund 11 000 Corona-Infektionen mit all ihren Konsequenzen geführt hat – von finanziellen Einbußen bis zu großem menschlichen Leid.
Nicht einmal der größte Verhandlungssaal im Justizpalast hätte Platz genug geboten, die Menge an Medienschaffenden aus Österreich, Deutschland, der Schweiz, Frankreich oder Belgien aufzunehmen, schließlich gilt es auch, die coronabedingten Abstandsregeln einzuhalten. Der Zivilprozess findet deshalb im Festsaal des Hauses statt, und sowohl die Richterin als auch Klauser und die Anwälte der Finanzprokuratur, also der Vertretung der Republik Österreich, müssen Mikrofone benutzen, damit alle der Verhandlung folgen können.
Doch schon am frühen Nachmittag, nach rund dreieinhalb Stunden, ist klar: Einen jahrelangen MonsterProzess wird es in diesem ersten Ischgl-Fall wahrscheinlich nicht geben. Die Richterin will kein weiteres Beweisverfahren, sie hat genug gehört. Viele Unterlagen würden vorliegen und der Fall sei im Prinzip spruchreif. Alles Weitere werde schriftlich ergehen – ob das bereits ein Urteil betrifft oder vorerst weitere Verfahrensschritte, bleibt dabei nur formal offen. Ein schriftliches Urteil ist wahrscheinlich. Bis dahin könnte es aber noch länger dauern.
Für Anwalt Klauser, den VSV von Verbraucherschützer Peter Kolba – er hat die Amtshaftungsund Sammelklagen gebündelt – und vor allem für Ulrich Schopf sind das keine guten Aussichten. Schließlich sind es er und seine Mutter, die dieses erste Verfahren im Ischgl-Komplex angestrengt hatten.
Ulrich Schopfs Vater, Hannes Schopf, wollte in jenem März 2020 eigentlich gar nicht nach Ischgl zum Skifahren. In einer kleinen Reisegruppe von Freunden war jedoch ein Platz frei geworden, und so entschied sich der ehemalige Chefredakteur der katholischen Wochenzeitung Die Furche kurzfristig, mitzukommen.
Es sollte eine fatale Entscheidung sein. Im Rückreise-Chaos am 13. März, da sind sich seine Hinterbliebenen sicher, habe sich der 72-Jährige in einem der überfüllten Busse, die die Urlaubsgäste zum Bahnhof brachten, mit Corona infiziert.
Fünf Tage, nachdem Schopf wieder zu Hause war, traten die ersten Symptome auf. Er und seine Frau versuchten, sich voneinander so gut es geht zu isolieren. Dass er positiv getestet wurde, verschwieg Schopf seiner Frau zuerst – weil er sie nicht belasten wollte, wie Anwalt Klauser vor Gericht ausführt. Nur seinen Sohn Ulrich informiert er per Whatsapp. Erst später, als er schon nicht mehr sprechen konnte, signalisierte Schopf seiner Frau auf ihre Fragen hin per Kopfnicken, dass er Corona habe. Beim Abtransport im Krankenwagen gab es keine Möglichkeit mehr für das Paar, sich zu verabschieden. Schopf starb schließlich im Krankenhaus, ohne seine Frau oder seinen Sohn noch einmal gesehen zu haben.
Nach wie vor leidet die Witwe schwer unter dem Verlust. Eine „psychische Beeinträchtigung mit Krankheitswert“liege vor, das haben ihre Ärzte für das Gericht festgestellt. Die Frau macht sich Vorwürfe, gibt sich selbst die Schuld für den Tod ihres Mannes. Sie ist Hauptklägerin im Amtshaftungsverfahren, ihr Sohn Ulrich Nebenkläger.
Beide fordern von der Republik Schadenersatz, Schmerzensund Trauergeld für den Verlust, in Höhe von 102 000 Euro.
Vor allem aber wollen die Schopfs, wie auch zahlreiche IschglOpfer aus Deutschland, eines: Dass die damals handelnden Akteure im Bezirk Landeck, im Land Tirol und im Bund ihre Fehler eingestehen, Verantwortung übernehmen. Und sich bei den Betroffenen entschuldigen – denn eine solche direkte Entschuldigung bei den Opfern, verbunden mit dem Einsehen der eigenen Fehler, gibt es bis heute nicht.
Ums Geld, sagt Ulrich Schopf, gehe es dabei nur in zweiter Linie. Sollten er und seine Mutter Recht und auch Schadenersatz bekommen, würden sie das Geld an die Caritas spenden. „Der stand mein Vater nahe, es wäre in seinem Sinne“, sagt Schopf. Für ihn und den VSV, der in Ermangelung eines Rechtsschutzes den Prozess finanziert, ist klar: Die völlig überhastete Abreise als Konsequenz des verzögerten und planlosen Agierens der Behörden wie der Politik sei schuld an der Erkrankung und am Tod von Hannes Schopf. All das solle nun „unter den Teppich gekehrt werden“, sagt der Sohn am Rande der Verhandlung.
Zur Erinnerung: Obwohl schon am 5. März Corona-Fälle in Ischgl bekannt geworden waren – es handelte sich um Reiserückkehrer aus Island – lief der Skibetrieb noch eine Woche weiter. Erst am 13. März um 14 Uhr trat Bundeskanzler Sebastian Kurz vor die Presse und verkündete eine Quarantäne unter anderem für Ischgl und das Paznauntal – obwohl er als Kanzler dafür gar nicht zuständig war. Überstürzt und völlig unorganisiert traten tausende Urlauberinnen und Urlauber die Heimreise an. Ischgl wurde zum Superspreader-Event der ersten Corona-Welle und zum Synonym für das Versagen der Behörden.
Hätten die Behörden das Desaster und so tausende Infektionen verhindern können? Hätte der Skibetrieb schon viel früher, also rund um den 5. März, eingestellt werden oder gar eine Reisewarnung verhängt werden sollen? Wollen die Klägerinnen und Kläger recht bekommen, müssen sie ein schuldhaftes, zumindest grob fahrlässiges Verhalten der Behörden nachweisen. Denn die Richterin muss entscheiden, ob ein Anspruch auf Entschädigung „dem Grunde nach“vorliegt.
Anwalt Klauser stützt sich in seiner Argumentation vor allem auf interne E-Mails, die er ausführlich zitiert. Es geht um die Informationen der isländischen Infizierten. „Nach Rücksprache mit HLH (Herrn Landeshauptmann Günther Platter von der ÖVP, Anm. d. Red.) hier die beiden E-Mails von infizierten Personen, sie geben an, im Flugzeug infiziert worden zu sein“, ist in einem zu lesen. Und: „Damit wäre Ischgl aus dem Schussfeld.“Aus einem weiteren Mail-Verkehr gehe jedoch hervor, dass die Behörden zu diesem Zeitpunkt schon gewusst hätten, dass die Gäste aus Island sich eben nicht erst im Flugzeug, sondern bereits in Ischgl angesteckt haben mussten, sagt die Klägerseite. „Wider besseren Wissens“und nach einer internen Abstimmung per Chatnachrichten, sagt Klauser, sei dennoch am 5. März eine Mitteilung an die Medien ergangen, wonach ebendies behauptet wurde: Die Gäste hätten sich im Flugzeug angesteckt.
Damit nicht genug, versucht die Klägerseite zu beweisen, was im Bericht der Ischgl-Kommission, die die Vorgänge zu untersuchen hatte, bereits in Abrede gestellt worden war: dass es Einflussnahme aus dem Tourismusgewerbe auf die Entscheidungen von Behörden und Politik in Tirol gegeben habe. So sollen der ehemalige wie der amtierende Obmann des Tourismusverbandes Ischgl-Paznauntal von Landeshauptmann Platter verlangt haben, „in der Öffentlichkeit die Gefahr kleinzureden und den Ball flach zu halten“, wie die Kläger ausführen. „Die für die Öffentlichkeitsarbeit verantwortlichen Beamten des Landes Tirol setzten diese tatsachenwidrige und irreführende Argumentation auch in der Folge fort.“So habe der Medienverantwortliche des Landes Tirol massiv Druck auf den Sender oe24 ausgeübt und habe erwirken wollen, „das Medium wolle berichten, die Isländer hätten sich im Flugzeug angesteckt“.
Immer wieder unterbricht die Richterin den Anwalt mit dem Hinweis, dessen Ausführungen seien ohnehin dem Schriftsatz und den beiliegenden Dokumenten zu entnehmen. „Es entsteht für mich der Eindruck, dass Sie alle diese Urkunden den Medien zutragen wollen, wofür ich durchaus Verständnis habe“, sagt die Richterin. Dennoch protokolliert sie umfassend die Aussagen von Alexander Klauser: „Wir wollen ja keine Verfahrensfehler produzieren.“
Einen „Tanz“für die Medien führe die Klägerseite auf, sagt einer der beiden Anwälte der Republik. Sie bestreiten die Ausführungen Klausers und wollen auch dessen Fragen zu den E-Mails und Chatnachrichten nicht beantworten. Ihre Argumentation: Das damals in Kraft befindliche Epidemiegesetz schütze die Allgemeinheit, nicht aber den Einzelnen. Dasselbe gelte für das Strafrecht. Es habe eben eine Pandemiesituation vorgelegen, und den Betroffenen habe klar sein müssen, dass eine Ansteckung für sie eine große Gefahr darstelle. Nach dem damaligen Wissensstand hätten die Behörden richtig, jedenfalls nicht fahrlässig gehandelt. Und: Einen Vergleich, etwa über einen „Runden Tisch“aller Beteiligten, den Klauser anbietet, lehnen die Anwälte der Republik ebenfalls ab. Die Fronten sind verhärtet.
„Ich sehe nicht, wie man ohne Beweisverfahren ein Urteil machen kann“, sagt Verbraucherschützer Kolba. „Egal, wie ein Urteil aussehen mag: Vor dem Obersten Gerichtshof wird ein Spruch ohne Beweisverfahren nicht halten“, sagt er im Gespräch mit unserer Redaktion.
Die Rechtsinstanz würde dann das Urteil jedenfalls aufheben, ist Kolba überzeugt. Die von Klauser eingebrachten Beweisanträge – es geht um fehlende Dokumente, die besagte Argumentation bezüglich der Absprachen der Behörden im Hintergrund stützen sollen – werden von der Richterin jedenfalls zur Kenntnis genommen. Die Anwälte der Republik Österreich stellen keine weiteren Anträge.
Offen bleibt, wie sich dieser Prozess auf das Verfahren der Deutschen Dörte Sittig auswirken wird, die ihren Lebensgefährten ebenfalls aufgrund einer in Ischgl erfolgten Corona-Infektion verloren hat. Die Frau aus der Nähe von Köln erwartet für kommende Woche ihren Gerichtstermin. 1000 bis 1500 Fälle würden Entschädigung erwarten, sagt Verbraucherschützer Kolba.
Und wie geht es in Ischgl selbst weiter? Die Tourismusbetriebe im Paznauntal gehen dem Vernehmen nach von einer normalen Wintersaison 2021/22 aus, freilich mit Sicherheitsmaßnahmen. Die Buchungslage sei gut, dank zahlreicher Stammgäste. Am 25. November soll die Skisaison beginnen. Die Region wirbt auf ihrer Internetseite: „In Ischgl wird der Skitag zum SuperSkitag. Jeder einzelne Schwung auf den bestens präparierten Pisten wird zum puren Genuss.“
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