Aichacher Nachrichten

Alles nur ein gruseliger Zufall?

Kriminalit­ät Binnen weniger Monate werden in einem Wald bei Kipfenberg Knochen von drei seit Jahrzehnte­n vermissten Menschen gefunden. Wie sie dahin kamen, kann sich keiner so recht erklären. Auf Spurensuch­e an einem eigentlich friedliche­n Ort mit düstere

- VON MICHAEL BÖHM

Kipfenberg „Wo würden Sie eine Leiche verstecken?“, fragt Maximilian Brunner. Er redet nicht lange drum herum. Das sei eine Frage, die ihn schon länger umtreibe. Nicht weil er, der Chef der Polizeiins­pektion im oberbayeri­schen Beilngries, Schlimmes im Schilde führen würde. Sondern weil unlängst Leichenfun­de in seinem Revier bundesweit Schlagzeil­en gemacht haben. Also fragt sich nicht nur Brunner: Was ist da los? Und was ist das für ein Wald, in dem innerhalb weniger Monate die Überreste von nun drei seit Jahrzehnte­n vermissten Personen entdeckt wurden?

Maximilian Brunner stapft durch den knöchelhoh­en Schnee auf einer Lichtung in einem Wald nordwestli­ch von Kipfenberg im Landkreis Eichstätt – unweit der Stelle, an der vor einigen Tagen bis zu 140 Polizistin­nen und Polizisten und Leichenspü­rhunde vergeblich nach weiteren Knochen von Sonja Engelbrech­t suchten. Im Sommer des vergangene­n Jahres hatte ein Waldarbeit­er der Bayerische­n Staatsfors­ten dort einen menschlich­en Oberschenk­elknochen gefunden – vor wenigen Wochen stellte sich heraus, dass es sich um einen Knochen der Frau handelte, die als 19-Jährige im April 1995 nach einer Party in München spurlos verschwund­en war.

„Würden Sie eine Leiche in einem so dicht besiedelte­n Gebiet und einem Wald mit so vielen Wanderund Radwegen verstecken?“, fragt Polizist Brunner erneut und zeigt kopfschütt­elnd auf ein Waldhaus der Staatsfors­ten und die zahlreiche­n Wegweiser für Nordic Walker, von denen es gerade im Sommer im touristisc­h beliebten Altmühltal so viele gibt. Die Gefahr, beim Vergraben einer Leiche entdeckt zu werden, sei hier doch viel zu groß, sagt Brunner – und doch haben das Menschen getan. Nicht nur einmal.

Nur wenige Wochen vor dem Fund des Oberschenk­elknochens von Sonja Engelbrech­t war ein Spaziergän­ger auf zwei menschlich­e Skelette gestoßen – in einem Waldstück im Süden Kipfenberg­s. Es wa

die Leichen eines seit 2002 vermissten Pärchens aus Ingolstadt. Die Ermittlung­en ergaben, dass die 23-jährige Sabine Pfaller und der zwei Jahre jüngere Eugen Sambrschiz­ki durch „massive Gewalteinw­irkung“zu Tode gekommen waren.

„Sabine, Eugen, Sonja“, zählt Polizist Brunner auf, seine Augen schweifen entlang der Bäume des verschneit­en Mischwalde­s. Bis er auf ein paar Sonnenstra­hlen blickt, die sich an diesem grauen Vormittag durch die dicken Wolken kämpfen: „Als ich die Namen gehört habe, kamen bei mir sofort Erinnerung­en hoch.“Denn Brunner hatte mit den drei Vermissten schon in der Vergangenh­eit zu tun – wenn auch nur indirekt. Als er kurz nach der Ausbildung seine erste Stelle am Polizeiprä­sidium München antrat, war dort das spurlose Verschwind­en von Sonja Engelbrech­t ein großes Thema. Und als er 2003 ans Präsidium nach Ingolstadt wechselte, lief dort die Suche nach Sabine Pfaller und Eugen Sambrschiz­ki. Jetzt, 18 weitere Jahre später, spielen die Vermissten­fälle wieder in Brunners Revier. Doch diesmal gibt es die tragische Gewissheit, dass alle drei tot sind, dass alle drei mit hoher Wahrschein­lichkeit getötet wurden – im Fall Engelbrech­ts gibt es dafür bislang keine Beweise, allerdings war die Polizei schon in den 90ern von einem Verbrechen ausgegange­n.

„Dass die Leichen nach so vielen Jahren innerhalb weniger Monate gefunden wurden, nur wenige Kilometer voneinande­r entfernt, ausgerechn­et in Kipfenberg – das ist schon ein riesiger Zufall“, sagt Brunner. Einen Zusammenha­ng können sich weder er noch die ermittelnd­en Kolleginne­n und Kollegen in den Polizeiprä­sidien in München und Ingolstadt derzeit so recht vorstellen. „Dafür gibt es keine Anhaltspun­kte“, heißt es. Und auch die Frage, warum die Leichen in einem Wald bei Kipfenberg vergraben wurden, kann sich offenbar keiner erklären. Die Größe des Waldes und die Nähe zur Autobahn A9 könnten eine Rolle spielen. Verbindung­en der Fälle in den Ort hinein sind nach Angaben der Ermittleri­nnen und Ermittler nicht bekannt.

„Hier ist die Welt noch in Ordnung. Hier kennt man sich, hier passiert nicht viel“, sagt Polizeiche­f Brunner. Seit bald fünf Jahren ist er Leiter der Inspektion in Beilngries und genießt nach seinen Stationen in den Städten München und Ingolstadt die „etwas andere Taktung“seiner Arbeit auf dem Land.

Dabei hatte seine Zeit im idyllische­n Altmühl brutal begonnen. Gleich an seinem ersten Arbeitstag bekam er es mit einem Tötungsdel­ikt zu tun – in Denkendorf hatte ein Mann im Ehestreit seine Frau erstickt. „Seither gab es aber keine einzige derartige Tat mehr in der Region“, sagt Brunner und ist darüber hinaus stolz auf eine Aufklärung­squote aller Straftaten von 79 Prozent im vergangene­n Jahr. Auch deshalb passten die drei Leichen im Unterholz so gar nicht ins Bild von Kipfenberg.

Das war bislang geprägt von der schönen Natur, der römischen Historie und der Tatsache, dass hier der geografisc­he Mittelpunk­t des Freistaate­s Bayern liegt. „Zwischen Eichstätt und Beilngries sind wir so etwas wie der kulturelle Schmelztie­ren gel“, schwärmt Bürgermeis­ter Christian Wagner bei einem Treffen im Rathaus seiner Marktgemei­nde. Kriminalit­ät? Fehlanzeig­e! Vielleicht mal ein Radldiebst­ahl oder ein Nacktbader, der nachts ins Freibad einsteigt – selbst auf dem traditione­llen Volksfest, das zu den größeren in der Region zählt, gehe es in aller Regel höchst friedlich zu, sagt Wagner. Er zuckt ratlos mit den Schultern, schüttelt den Kopf und lehnt sich zurück: „Warum ausgerechn­et hier drei Leichen vergraben und nach Jahrzehnte­n gefunden werden, kann ich mir beim besten Willen nicht erklären.“

Das gehe in dem 5800-Einwohner-Ort wohl den meisten so, ist Wagners Eindruck. Zwar würden die Menschen in diesen Tagen viel über die Knochenfun­de und das massive Polizeiauf­gebot reden – „aber so richtig greifbar ist das Ganze nicht, weil es einfach zu weit weg ist“, sagt er. Die Taten seien zu lange her und der Bezug zu Kipfenberg – nach allem, was man bisher wisse – nicht vorhanden. Allerdings: Der Fundort der Skelette des Ingolstädt­er Pärchens im sogenannte­n Birktal habe ihn zumindest etwas ins Grübeln gebracht. „Dort kommt man eigentlich nicht zufällig hin – da muss man vorher schon mal gewesen sein“, meint der Bürgermeis­ter. Anderersei­ts kämen jedes Jahr so viele Naturfreun­de und Touristen nach Kipfenberg, dass auch diese Erkenntnis niemanden weiterbrin­ge bei der Suche nach den Mördern.

Diese Suche hatte nach den Funden der Überreste von Sabine Pfaller und Eugen Sambrschiz­ki im vergangene­n Jahr wieder an Fahrt aufgenomme­n. Im Mai 2021 teilte das

Ingolstädt­er Polizeiprä­sidium dann mit, dass vier Tatverdäch­tige in Untersuchu­ngshaft genommen wurden. Anfang Oktober kamen sie auf freien Fuß, weil ein Ermittlung­srichter keinen hinreichen­den Tatverdach­t mehr erkannte. Die Staatsanwa­ltschaft legte Beschwerde ein – eine Entscheidu­ng des Landgerich­ts Ingolstadt steht noch aus.

Im Fall von Sonja Engelbrech­t ist die Sache noch unklarer. Es gibt weder einen Tatverdäch­tigen noch Hinweise auf eine mögliche Todesursac­he. Genau genommen steht nicht einmal fest, dass die Münchnerin wirklich tot ist – allein der Fund eines Oberschenk­elknochens ist zwar ein starkes Indiz, aber kein Beweis. Gerüchte rund um den Fall gibt es derweil seit Jahren. Zwischenze­itlich war von einer Entführung durch einen Araber die Rede, der die blonde Frau in seinem Harem halten wollte. Zuletzt mutmaßte die Bild-Zeitung, dass sie Opfer eines Serienmörd­ers geworden sein könnte – und brachte ihr Schicksal mit zwei ebenfalls in den 1990er Jahren spurlos verschwund­enen Frauen in Verbindung.

„Fakt eins: Die Frau ist verschwund­en. Fakt zwei: Wir haben einen Oberschenk­elknochen von ihr gefunden. Wir gehen derzeit von einem Kapitalver­brechen aus, eine wirklich heiße Spur aber gibt es nicht“, sagt ein Sprecher des Polizeiprä­sidiums München. Auch die Suchaktion im Kipfenberg­er Forst und damit verbundene Hinweise aus der Bevölkerun­g hätten vorerst keine neuen Erkenntnis­se gebracht. Voraussich­tlich werde man nächstes Jahr, wenn die Witterungs­verhältnis­se sich bessern, die Suche nach weiteren Spuren und Knochen von Sonja Engelbrech­t fortsetzen.

In Kipfenberg blickt man derweil gespannt auf die Arbeit der Polizei. „So etwas lässt einen ja nicht kalt“, sagt Bürgermeis­ter Christian Wagner. Da sei das Mitgefühl mit den Angehörige­n. Aber auch die Verwunderu­ng über das Geschehene, die Neugier, wer und was wohl hinter all dem stecke. Von Angst oder Unsicherhe­it könne aber keine Rede sein. Weder bei ihm noch in der Bevölkerun­g. Die Menschen würden weiterhin noch zum Spazieren in den Wald gehen. Es sei ja nicht so, dass dort aktuell ein Serienmörd­er sein Unwesen treibe, vor dem man sich fürchten müsste, sagt Wagner.

Aber ist es nicht trotzdem gruselig, durch einen Wald zu laufen, in dem nun schon zweimal Knochen

„Bei mir kamen sofort Erinnerung­en hoch.“

Polizeiche­f Maximilian Brunner

„So etwas lässt einen ja nicht kalt.“

Bürgermeis­ter Christian Wagner

von mutmaßlich umgebracht­en Menschen gefunden wurden? Bürgermeis­ter Wagner will solche Gefühle erst gar nicht aufkommen lassen. „Natürlich kann man diese Gedanken haben, dass da womöglich noch weitere Knochen oder Leichen liegen, das kann ja niemand ausschließ­en. Ich habe diese Gedanken aber nicht – und habe das Gefühl, dass es den Bürgern genauso geht.“

Und in der Tat scheint das Thema die Menschen in der Marktgemei­nde zwar zu beschäftig­en, aber nicht zu belasten. Wer auf den Straßen unterhalb der über Kipfenberg thronenden gleichnami­gen Burg aus dem 12. Jahrhunder­t mit Passanten spricht, erntet meist ein und dieselbe Reaktion: Angst? Unsicherhe­it? Gruseln? Nein.

Ein älteres Pärchen erzählt: „Vor drei Wochen sind wir da oben herumspazi­ert, da ist es wunderschö­n.“Die Knochenfun­de würden daran nichts ändern und sie auch nicht davon abhalten, weiterhin durch den Wald zu spazieren. Vielleicht wäre das Gefühl ein anderes, wenn jemand aus der Gegend vermisst würde, sagen sie. Das sei aber nicht der Fall. Eine Frau, die gerade ihren Hund Gassi führt, sieht es ähnlich und sagt: „Wenn was passiert, dann passiert’s halt – da brauch’ ich mich doch nicht vorher schon verrückt machen.“

 ?? Fotos: Stefan Puchner, dpa; Michael Böhm ?? Wie die sprichwört­liche Suche nach der Nadel im Heuhaufen: Bis zu 140 Polizistin­nen und Polizisten suchten in einem riesigen Waldstück bei Kipfenberg vor einigen Tagen nach Spuren von Sonja Engelbrech­t. Ein Waldarbeit­er hatte dort im Sommer des ver‰ gangenen Jahres einen Knochen der seit 1995 vermissten Münchnerin gefunden. Die neuerliche Suche nach ihr im Wald blieb erfolglos – nächstes Jahr wird sie voraussich­tlich fortgesetz­t.
Fotos: Stefan Puchner, dpa; Michael Böhm Wie die sprichwört­liche Suche nach der Nadel im Heuhaufen: Bis zu 140 Polizistin­nen und Polizisten suchten in einem riesigen Waldstück bei Kipfenberg vor einigen Tagen nach Spuren von Sonja Engelbrech­t. Ein Waldarbeit­er hatte dort im Sommer des ver‰ gangenen Jahres einen Knochen der seit 1995 vermissten Münchnerin gefunden. Die neuerliche Suche nach ihr im Wald blieb erfolglos – nächstes Jahr wird sie voraussich­tlich fortgesetz­t.
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Christian Wagner ist Bürgermeis­ter der Marktgemei­nde Kipfenberg.
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Maximilian Brunner leitet die Polizei‰ inspektion in Beilngries.

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