Plötzlich Verwandtschaft aus Afrika
Neuer Tagesroman Hart, doch unbedingt lesenswert: Francesca Melandris „Alle, außer mir“
Stellen Sie sich vor, da steht ein junger dunkelhäutiger Flüchtling vor Ihrer Haus- oder Wohnungstür – und behauptet, er sei Enkel Ihres Vaters, praktisch Ihr Neffe. Und der dunkelhäutige Flüchtling weist auch ein Indiz dafür vor, dass diese Behauptung richtig sein könnte: seinen Pass mit dem entsprechenden Nachnamen. Nun werden Sie ins Grübeln geraten. Bitten Sie den jungen Mann herein? Wollen Sie mehr wissen über die zunächst nur behauptete Verwandtschaft? Oder siegt Ihre Unlust, genealogische Forschung zu betreiben, womöglich noch zu Hilfe verpflichtet zu sein?
Ilaria, eine 46-jährige römische Lehrerin, entschließt sich als Zentralfigur
von Francesca Melandris packendem Roman „Alle, außer mir“zu Nachforschungen – nicht gerade begeistert, nicht gerade mit fliegenden Fahnen, aber sie tut es. Leicht ist das nicht, denn ihr Vater Attilio Profeti ist 95 und dement. Da ist mündlich nicht mehr viel zu erwarten. Doch womöglich gibt es noch Dokumente aus jener Zeit, als Papa, der seine römischen Nachkriegskinder mit Eigentumswohnungen gut versorgte, in Abessinien war, dem heutigen Äthiopien… Dort nämlich wurde der vorgelegte Pass ausgestellt, auf den Namen Shimeta Ietmgeta Attilaprofeti.
Und so rollt sich in Melandris Buch, das wir ab Dienstag als Fortsetzungsroman abdrucken, eine über drei Generationen gespannte
Familiengeschichte auf, die sich voller Tragik und lakonischem Humor vor einem politisch bösen Hintergrund ereignet. 1935 nämlich erklärte Mussolini dem Kaiserreich Abessinien den Krieg, und so kam Attilio Profetti nach Addis Abeba. Was hatte er dort alles getrieben? Wie stark war er beteiligt am grausamen Vorgehen der Italiener gegenüber der abessinischen Bevölkerung? Wer kennt schon genau das Leben seines Vaters?
Francesca Melandri, die 57-jährige italienische Schriftstellerin, ist ein unerhört starkes Buch gelungen. Aufgrund genauer Recherche verknüpft sie drastisch, hart, strotzend und sarkastisch den brutalen italienischen Eroberungswillen einst mit der italienischen Politik heute und den Nach- und Auswirkungen auf eine gut situierte römische Familie. Dass bei der Anerkennung des Flüchtlings aus Äthiopien letztlich der Liebhaber Ilarias, ein einflussreicher, aber anderen Überzeugungen nahe stehender Politiker hilft, dies gehört zum scharfen, ätzenden Humor von „Alle, außer mir“.
In deutscher Übersetzung erschien der viel gepriesene Roman mit seinen historischen Wahrheiten und brennenden Schlussfolgerungen 2018 – im selben Jahr wie Melandris „Eva schläft“und ein Jahr vor „Über Meereshöhe“. Höchste Leseempfehlung für „Alle, außer mir“.
» Francesca Melandri: Alle, außer mir, Verlag Klaus Wagenbach, 596 Seiten, 26,99 Euro