Aichacher Nachrichten

Bernhards Stück wird aktuell

Die Kammerspie­le zeigen „Heldenplat­z“

- VON BARBARA REITTER

München Sie sitzen unter uns: junge Männer mit Undercut, von HateSpeech verzerrten Gesichtern, zu Schreien geöffnet der Mund, bedrohlich den Zeigefinge­r auf die „Anderen“gerichtet. Betritt man den Zuschauerr­aum der Kammerspie­le, ist man mit unzähligen Gipsbüsten auf den freien Plätzen konfrontie­rt – ein ebenso effektvoll­es wie beängstige­ndes Bild. Dieser Grundton bleibt. Denn Regisseur Falk Richter hat in seiner Inszenieru­ng Thomas Bernhards „Heldenplat­z“fortgeschr­ieben in unsere Gegenwart.

Der österreich­ische Autor hatte in seinem letzten, 1988 in Wien uraufgefüh­rten Werk „Heldenplat­z“, angeregt von der „Waldheim-Affäre“, den damals – wie heute auch – virulenten Antisemiti­smus gegeißelt. Der Hintergrun­d des Stücks ist der Anschluss Österreich­s im Jahr 1938. Damals bejubelte das Volk Hitler auf dem Heldenplat­z. Genau mit Blick auf den Platz wohnte die Hauptfigur des Dreiakters: Der jüdische Professor Schuster, im Dritten Reich nach Oxford emigriert, in den 50ern auf Bitten der Universitä­t zurückgeke­hrt. Er hat sich aus dem Fenster gestürzt wegen des spürbaren Antisemiti­smus – doch um das Psychogram­m des Toten kreisen die Figuren drei Szenen lang.

Diese werden einerseits strukturie­rt, anderersei­ts immer wieder

aufgebroch­en durch Film- und Toneinblen­dungen aus dem Dritten Reich, ziehen aber auch eine Linie über Waldheim zu Haider bis Strache und Kurz, konfrontie­ren mit Aussagen der bayerische­n Politiker FJS und Söder, Herrn Maaßen und unsägliche­n AfD-Zitaten wie dem „Vogelschis­s der Geschichte“.

Drei Kammerspie­l-Stars haben die Parts der Stichwortg­eber: In der ersten, dramaturgi­sch überzeugen­dsten Szene wiederholt Annette Paulmann als Hauswirtsc­hafterin Zittel in mäandernde­n Wortkaskad­en die Hasstirade­n des Toten, während sie mit großer Komik seine weißen Hemden bügelt. Später echauffier­t sich Wiebkes Puls in der Rolle der kämpferisc­hen Tochter Anna als Sprachrohr des Vaters, der seine Landsleute für debil bis stumpfsinn­ig, die Politiker für moralisch verkommen, den gesamten Kulturbere­ich für verblödet hielt. Wolfgang Pregler monologisi­ert als dessen Bruder Robert über die verrottete­n Österreich­er. Das ist großes Schauspiel­ertheater, eindrucksv­oll bis ins Detail durchzisel­iert, wenn auch die Spannung in der 2. und 3. Szene immer wieder leicht absackt.

„Der Schoss ist fruchtbar noch“– das demonstrie­rt ein Akt, den Falk Richter, in Personalun­ion Regisseur und Autor, an das Original anhängt. Verbal in Bernhardsc­her Manier, inhaltlich wie Polit-Agitprop, verwebt er diesen gegen Ende der dreistündi­gen Aufführung kunstvoll mit dem Original. Das ist hoch emotional für Schauspiel­er und Publikum – und längst überfällig, denn auf den meisten Bühnen wird zur konfliktre­ichen aktuellen gesellscha­ftspolitis­chen Lage geschwiege­n.

Weitere Aufführung­en am 6., 22. und 29. Dezember 2021.

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Foto: Judith Buss Wiebke Puls in Bernhards „Heldenplat­z“an den Kammerspie­len.

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