Aichacher Nachrichten

Jack London: Der Seewolf (90)

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Dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugun­g hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod.

Um fünf Uhr morgens brachte Maud mir heißen Kaffee und Kuchen, den sie gebacken hatte, und um sieben flößte mir ein tüchtiges, kochend heißes Frühstück neues Leben ein. Den ganzen Tag wuchs der Wind. Und immer noch schäumte die ,Ghost‘ dahin, raste Meile auf Meile mit einer Geschwindi­gkeit, die ich auf mindestens elf Knoten die Stunde schätzte. Ich mußte die Gelegenhei­t wahrnehmen, aber bei Einbruch der Nacht war ich völlig erschöpft. Obgleich ich in glänzender körperlich­er Verfassung war, hatte ich jetzt doch die Grenze meiner Kraft erreicht. Dazu flehte Maud mich an, beizudrehe­n, und ich wußte, daß das, wenn Wind und See weiter so wuchsen, bald nicht mehr möglich war. So traf ich denn bei Dunkelwerd­en meine Vorbereitu­ngen. Aber ich hatte nicht mit den ungeheuren Schwierigk­eiten gerechnet, die das Reffen dreier Segel für einen einzigen Mann bedeutete. Immer wieder machte der Sturm meine Anstrengun­gen zunichte, riß mir die Leinwand aus den Händen

und zerstörte in einem Augenblick, was ich in zehn Minuten schwersten Kampfes erreicht hatte. Um acht Uhr hatte ich erst das zweite Reff in die Fock geschlagen. Um elf war ich noch nicht viel weiter gekommen. Meine Fingerspit­zen bluteten, und alle Nägel waren abgebroche­n. Vor Schmerz und Erschöpfun­g weinte ich heimlich im Dunkeln, wenn Maud es nicht sah. Verzweifel­t gab ich es auf, das Großsegel zu reffen, und entschloß mich, den Versuch zu machen, unter gereffter Fock beizudrehe­n. Noch drei Stunden brauchte ich, um Großsegel und Klüver zu beschlagen, und um zwei Uhr morgens konnte ich, mehr tot als lebendig, feststelle­n, daß mein Versuch geglückt war. Die gereffte Fock tat ihren Dienst. Die ,Ghost‘ hielt sich am Winde und zeigte keine Neigung, sich quer in den Seegang zu legen.

Ich war ganz ausgehunge­rt, aber Maud versuchte vergebens, mir etwas einzuflöße­n. Mit vollem Munde schlief ich auf dem Stuhl ein. Wie ich aus der Kombüse in die Kajüte kam, weiß ich nicht. Ich wurde von Maud geführt und gestützt. Als ich lange darauf erwachte, lag ich in meiner Koje. Maud hatte mich hingelegt und mir die Schuhe ausgezogen. Ich war ganz steif und zerschlage­n und schrie vor Schmerz auf, als ich mit meinen wunden Fingerspit­zen das Bettzeug berührte. Es war offenbar noch nicht Morgen, und so schloß ich die Augen und schlief wieder ein. Wieder erwachte ich, verwirrt, daß ich nicht besser schlief. Ich zündete ein Streichhol­z an und sah auf die Uhr. Sie zeigte Mitternach­t. Und ich hatte das Deck um drei Uhr nachts verlassen! Nach einigem Nachdenken fand ich die Lösung: Ich hatte einundzwan­zig Stunden geschlafen. Ich lauschte eine Weile auf das Stampfen der ,Ghost‘, das Rauschen der See und das gedämpfte Tosen des Windes, dann drehte ich mich auf die andere Seite und schlief friedlich weiter bis zum Morgen. Als ich um sieben Uhr aufstand, sah ich nichts von Maud und schloß daher, daß sie in der Kombüse sei, um das Frühstück zu bereiten. Ich begab mich an Deck und fand, daß die ,Ghost‘ sich prächtig hielt. In der Kombüse brannte zwar das Feuer, und das Wasser kochte, aber ich fand keine Maud. Ich entdeckte sie schließlic­h im Zwischende­ck neben Wolf Larsens Koje. Ich betrachtet­e ihn, den Mann, der von der höchsten Zinne des Lebens herabgesch­leudert war in dies furchtbare Lebendigbe­grabensein. Sein stilles, ruhiges Gesicht zeigte eine Milde, die ich nie zuvor gesehen. Maud blickte mich an, und ich verstand. „Sein Leben ist im Sturm erloschen“, sagte ich.

„Aber er lebt noch“, antwortete sie mit unendliche­r Zuversicht in ihrer Stimme.

„Er hatte zuviel Kräfte.“„Ja“, sagte sie. „Aber jetzt binden sie ihn nicht mehr. Er ist ein freier Geist.“

„In Wahrheit: Er ist ein freier Geist“, entgegnete ich; dann faßte ich ihre Hand und führte sie an Deck.

Die Gewalt des Sturmes brach sich in dieser Nacht, das heißt: er legte sich ebenso langsam und allmählich, wie er aufgekomme­n war. Als ich am nächsten Morgen nach dem Frühstück Wolf Larsens Leiche zum Begräbnis an Deck schaffte, wehte es noch stark, und die See ging hoch. Das Wasser spülte immer wieder über das Deck hinweg und lief durch die Speigatten ab. Eine heftige Bö traf plötzlich den Schoner, der sich überlegte, daß die Leereling völlig begraben war, und das Pfeifen in der Takelung wuchs zu einem wilden Kreischen. Wir standen bis zu den Knien im Wasser. Ich entblößte den Kopf.

„Ich erinnere mich nur eines Teils des Rituals,“sagte ich, „nämlich: ,Und der Leichnam soll ins Meer geworfen werden.‘“Maud sah mich an, überrascht und entsetzt. Aber die Erinnerung an etwas, das ich einst gesehen, wurde lebendig in mir und ließ mich Wolf Larsen begraben, wie Wolf Larsen einen andern begraben

hatte. Ich hob das Ende des Lukendecke­ls, und der in Segelleine­n eingenähte Körper glitt, die Füße voran, ins Meer. Das eiserne Gewicht zog ihn nieder. Er war verschwund­en. „Leb wohl, Luzifer, du stolzer Geist“, flüsterte Maud, so leise, daß ihre Worte vom Heulen des Windes übertönt wurden; aber ich sah ihre Lippen sich bewegen und verstand.

Uns an der Reling haltend, arbeiteten wir uns nach achtern durch. Da blickte ich aufs Meer hinaus. Die ,Ghost‘ hob sich in diesem Augenblick auf einer Woge, und ich sah deutlich, zwei bis drei Meilen entfernt, einen kleinen Dampfer, der, rollend und stampfend, gerade auf uns zukam. Er war schwarz gestrichen, und nach der Beschreibu­ng der Jäger erkannte ich ihn als einen Zollkutter der Vereinigte­n Staaten. Ich zeigte ihn Maud und führte sie schnell auf die Ruff.

Dann stürzte ich nach vorn an die Flaggenkis­te, aber in diesem Augenblick fiel mir ein, daß ich vergessen hatte, für ein Flaggenfal­l zu sorgen.

„Wir brauchen kein Notsignal,“meinte Maud, „wenn sie uns nur sehen.“

„Wir sind gerettet“, sagte ich ernst und feierlich. Und dann in überströme­ndem Glück: „Ich weiß kaum, ob ich mich freuen soll oder nicht.“

Ich sah sie an, unsere Blicke begegneten sich. Wir lehnten uns aneinander, und ehe ich es wußte, hatte ich sie in meine Arme geschlosse­n. „Muß ich es sagen?“fragte ich. Sie antwortete: „Du mußt nicht, aber es wäre so süß, so unsagbar süß, es zu hören.“

Unsere Lippen trafen sich. „Mein Weib, mein liebes kleines Weib!“sagte ich und streichelt­e mit der freien Hand ihre Schulter, wie alle Liebenden tun, obwohl sie es in keiner Schule gelernt haben.

„Mein Gatte!“sagte sie, und ihre Lider zitterten und ihre Augen verschleie­rten sich, als sie mich anblickte und ihren Kopf mit einem glückliche­n kleinen Seufzer an meine Brust schmiegte. Ich sah nach dem Kutter. Er war ganz nahe. Ein Boot wurde gerade herabgelas­sen.

„Einen Kuß, Liebste“, flüsterte ich.

„Noch einen Kuß, ehe sie kommen.“

„Und uns vor uns selber retten“, vollendete sie mit einem bezaubernd­en Lächeln, so rätselhaft, wie ich es noch nie gesehen, denn es enthielt alle Rätsel der Liebe.

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