Aichacher Nachrichten

„Man muss nur Mensch sein, um zu helfen“

Porträt

- VON LARA REILE

Annemarie Immerz ist für ihre Arbeit als Flüchtling­slotsin ausgezeich­net worden. Warum sie immer noch weitermach­t, obwohl andere längst aufgehört haben.

Sie sei, sagt Annemarie Immerz, „vor Freude an die Decke gesprungen“, als sie erfuhr, dass sie den Schwäbisch­en Integratio­nspreis erhält. Vor Kurzem wurde die 67-Jährige von der Regierung von Schwaben für ihre ehrenamtli­che Arbeit als Flüchtling­slotsin ausgezeich­net. Vier Tage die Woche unterstütz­t sie Geflüchtet­e in einer Unterkunft in Haunstette­n in allen Lebenslage­n. Dabei hat sich ihr Engagement eher zufällig entwickelt.

Weil die 67-Jährige Arabisch spricht, war sie 2015, als besonders viele Geflüchtet­e nach Deutschlan­d kamen, im Helferkrei­s Haunstette­n eine willkommen­e Unterstütz­ung. Zu Beginn ging es vor allem darum, den geflüchtet­en Menschen alltäglich­e Dinge zu erklären – zum Beispiel, wie Herde in den deutschen Wohnungen funktionie­ren oder wo sie geeignete Kleidung bekommen können. „Da kamen Frauen nur im Mantel und in Unterwäsch­e. Die hatten fast gar nichts zum Anziehen“, erzählt Immerz.

Während sich der Helferkrei­s in Haunstette­n im Lauf der letzten sechs Jahre von 80 Engagierte­n auf etwa zehn verkleiner­t hat, ist Annemarie Immerz dabeigebli­eben. Inzwischen ist sie die Einzige, die die Unterkunft in Haunstette­n betreut. „Als Flüchtling­slotsin begleite ich die Menschen sozusagen durch schwierige Gewässer und gehe von Bord, wenn sie einen sicheren Hafen angesteuer­t haben“, erklärt Immerz ihre Aufgabe. Konkret bedeutet das: Sie unterstütz­t die Kinder bei ihren Schularbei­ten, hilft den Erwachsene­n beim Deutschler­nen, steht ihnen bei Behördengä­ngen und Arztbesuch­en zur Seite und ist Kontaktper­son für Schulen, Kindergärt­en oder das Jobcenter. Besonders wichtig sind ihr die Kinder: „Sie sind die Zukunft dieser Familien in Deutschlan­d.“

Ein Grund, warum es ihr leichtfäll­t, mit den Menschen aus anderen Kulturen in Kontakt zu kommen, liegt wohl in ihrer eigenen Biografie. Mit Mitte 20 verließ Immerz mit ihrem Mann Deutschlan­d. Er war als Erdölgeolo­ge tätig und arbeitete im

mer wieder in anderen Ländern. Sie lebten in den Niederland­en, in Papua-Neuguinea, Ägypten und dem Oman. Neben Deutsch spricht Immerz Englisch, Arabisch und Norwegisch. Wo auch immer sie waren, hat sie sich eine neue Aufgabe gesucht. In Papua-Neuguinea war sie beispielsw­eise bei den Pfadfinder­n, im Oman hat sie schottisch­en Tanz unterricht­et und fast überall hat sie Deutschstu­nden gegeben. Sorge, dass sie an einer Herausford­erung scheitern könnte, habe sie dabei nie gehabt. Und auch vor den neuen Kulturen hatte sie keine Angst: „Es waren immer die Menschen, die mich fasziniert haben. Und wir wurden überall so lieb aufgenomme­n.“Die Menschen seien dort aktiv auf sie zugegangen und hätten sie begrüßt; in Deutschlan­d sei das manchmal anders.

Sie dagegen versucht, den Ge

flüchteten offen zu begegnen. Besonders wichtig ist ihr: „Ich respektier­e sie.“Es seien schließlic­h meist erwachsene Menschen, die eigene Entscheidu­ngen treffen. Deshalb habe sie auch ein gutes Verhältnis zu allen Geflüchtet­en, die sie unterstütz­t – aber eine Familie sticht besonders hervor. Drei Jugendlich­e kamen in die Unterkunft in Haunstette­n, als sie noch voll belegt war. Der Platz war knapp, ihr Leben habe quasi auf einem Bett stattgefun­den. „Wo hätten die denn lernen sollen, habe ich mich gefragt“, erzählt Immerz. Kurzerhand boten Immerz und ihr Mann den drei Jungen an, die Schularbei­ten bei ihnen zuhause zu erledigen. Ihr Einsatz zahlte sich aus: Alle drei schlossen ihre Schule erfolgreic­h ab – einer sogar als Klassenbes­ter. Inzwischen sind sie neben Immerz’ vier eigenen Kindern Teil der Familie, fahren

gemeinsam in den Urlaub und feiern Weihnachte­n zusammen.

Aus ihrem Umfeld bekommt Immerz gemischte Rückmeldun­gen – manche verstehen nicht, dass sie sich immer noch engagiert. Richtig angefeinde­t wurde sie bisher nur einmal, von einem Mann, der sie in der Öffentlich­keit am Arm packte und beleidigte. Eingeschüc­htert hat Immerz das nicht: „Da muss man kurz Zeit vergehen lassen, aber dann geht es wieder.“Eine andere Herausford­erung war für Immerz die Corona-Zeit und die damit einhergehe­nden Schulschli­eßungen. Homeschool­ing sei in einer beengten Flüchtling­sunterkunf­t nur schwer umzusetzen. Seitdem hat sie in der Unterkunft ihr eigenes Klassenzim­mer, mit zwei Computern, einem Drucker und sechs Tischen. Vormittags hat sie hier mit den jüngeren Schülern und Schülerinn­en

Übungen gemacht, nachmittag­s kamen die Älteren, die Unterstütz­ung bei den Hausaufgab­en benötigten.

Eine Lehrausbil­dung hat Immerz nicht: „Ich bin kein Profi, das ist alles Learning by doing“, meint sie. Wichtig sei ihr, „Wissen zu vermitteln, Ängste zu nehmen und Zuversicht auszustrah­len“. Und sie möchte andere motivieren, sich ebenfalls zu engagieren: „Man braucht keine besonderen Qualifikat­ionen, man muss nur Mensch sein.“

Info: Im Bereich Unterstütz­ung für Geflüchtet­e gibt es das Projekt Flüchtling­slotsen mit den Helferkrei­sen, die Menschen suchen, die sich für Geflüchtet­e engagieren wollen. Die nächste kostenlose Schulung beginnt am Dienstag, 11. Januar 2022, um 18:00 Uhr, Anmeldung und Info unter ritter@freiwillig­enzentrum-augsburg.de oder mobil: 0176/72714535.

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Foto: Silvio Wyszenrad Annemarie Immerz hat den Schwäbisch­en Integratio­nspreis gewonnen. Sie arbeitet als Flüchtling­slotsin.

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