Sind wir für die OmikronNotlage gerüstet?
Pandemie
Experten warnen vor massiven Arbeitsausfällen in sensiblen und wichtigen gesellschaftlichen Bereichen. So bereiten sich Behörden, Energieversorger und der Handel auf die drohende Ausnahmesituation vor.
Berlin/Augsburg Es ist eine Aufgabe, die für die Politik von unschätzbarem Wert ist – aber immer auch das Problem hat, von leisen (oder lauten) Hoffnungen begleitet zu werden, dass es womöglich doch anders, weniger schlimm kommen werde. Seit Beginn der Corona-Pandemie versuchen sogenannte Modellierer mit Rechen-Modellen vorherzusagen, wie sich die Krise entwickeln wird. Schwarzseher sind sie für die einen. Wichtige Hinweisgeber für die anderen. In der aktuellen Phase der Pandemie ist es für die Modellierer besonders schwer, eine Prognose abzugeben – zu wenig ist bislang über die Omikron-Mutation bekannt. Hinzu kommt, dass sinkende Inzidenzwerte ein Gefühl der Sicherheit vermitteln. Doch selbst bei eher optimistischer Schätzung sind sich die führenden Experten einig: Die Wucht der nächsten Welle wird uns treffen. Einer der Gründe dafür ist, dass Omikron den Impfschutz leichter unterlaufen kann, als das die Delta-Variante getan hat.
Thorsten Lehr, Professor für klinische Pharmazie an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken, hat für den Spiegel errechnet, wie Deutschland in einigen Wochen dastehen könnte. Laut dessen Simulator könnte die Zahl der Covid19-Fälle bis Mitte Februar über die Fünf-Millionen-Marke steigen. Dies würde bei einer Gleichverteilung durch die Altersgruppen bedeuten, dass fast drei Millionen Menschen nicht zur Arbeit gehen können. Denn selbst wer keine schweren Symptome hat, muss sich in eine 14-tägige Quarantäne begeben. Noch pessimistischer ist Lehrs Kollege Dirk Paessler. Der Fürther Modellierer sagt im Spiegel sogar bis zu zehn Millionen Arbeitsausfälle im Februar voraus.
Entsprechend deutlich warnt inzwischen der Corona-Expertenrat der Bundesregierung: Die kritische Infrastruktur des Landes – also unter anderem Krankenhäuser, Polizei, Feuerwehr, Rettungsdienst, Telekommunikation, Strom- und Wasserversorgung – müsse stärker geschützt werden. Zwar gehen die Experten davon aus, dass die Zahl der schweren Verläufe geringer sein wird. Doch allein durch die schiere
Wucht der Zahl der Neuinfektionen könnten die Auswirkungen der Omikron-Welle weitreichender sein als die der vier vorherigen.
Sollte die Warnung tatsächlich Wirklichkeit werden, wäre damit eine neue Zuspitzung der Krise erreicht. Zwar hofft Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach, dass durch die strenger gefassten Corona-Regeln eine Überlastung der Systeme noch aufgefangen werden könne. Doch bei Polizei, Feuerwehr, in Strom- und Wasserversorgung oder im Lebensmittelbereich würden die Notfallpläne überprüft. Für Lothar Wieler, Präsident des Robert-Koch-Instituts, ist die Rechnung einfach: „Wenn viele krank sind oder in Quarantäne müssen, können sie nicht zur Arbeit gehen.“Wie sehr sich die Situation verschärft, könnte sich in wenigen Wochen zeigen: „Die Omikron-Variante verbreitet sich mit einer bislang nicht gesehenen Dynamik“, sagte Wieler. Praxen, Krankenhäuser und Apotheken als zentralem Teil der kritischen Infrastruktur komme dabei besondere Aufmerksamkeit zu. Denn dort treffen zwei Faktoren aufeinander: Durch Omikron könnte es zu mehr Ausfällen in der Belegschaft kommen – zugleich
die Zahl der Patienten wachsen. Lauterbach sagt, er gehe davon aus, dass dieser Bereich durch die dort herrschende hohe Impfquote gut geschützt sei. Dennoch würden auch dort Notfallpläne überprüft. Es werde etwa nicht ausgeschlossen, „auch Rehakliniken für die Akutversorgung heranzuziehen“.
In Bayern betont der Chef des Landesfeuerwehrverbandes, Johann Eitzenberger: „Die Einsatzbereitschaft aller bayerischen Feuerwehren war und ist zu keinem Zeitpunkt gefährdet.“Man verfolge die Informationen zur Omikron-Variante und die damit verbundenen Warnungen. „Wir sind wachsam, wir haben gelernt, mit der Pandemie umzugehen.“
Andere Behörden und Unternehmen der kritischen Infrastruktur haben begonnen, ihre Notfallpläne zu reaktivieren. „Wir stellen sicher, dass genügend Verstärkungskräfte aus anderen Bereichen zur Verfügung bereitstehen für unser Lagezentrum“, sagt eine Sprecherin des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK). Das Gemeinsame Meldeund Lagezentrum beim BBK unterstützt bei der Verlegung intensivpflichtiger Covid-19-Patienten,
wenn es regionale Engpässe in den Krankenhäusern gibt.
„Wir nehmen die vom Coronavirus sowie der neuen Omikron-Variante ausgehenden Risiken sehr ernst“, sagt Thomas Renz, Sprecher des regionalen Strom- und Gasanbieters Lechwerke LEW. Seit Beginn der Pandemie sei ein Krisenstab eingerichtet, der die Entwicklung der Krise und die Empfehlungen der Behörden verfolgt und kommuniziert. Mitarbeiter der LEW sollen so weit wie möglich im Homeoffice arbeiten, Maske tragen und sich impfen lassen. „Für Mitarbeiter in kritischen Bereichen gelten besondere Vorkehrungen: Bestimmte Schichtsysteme stellen sicher, dass die einzelnen Schichten nicht miteinander in Kontakt kommen“, erklärt Renz. „Zudem werden zusätzliche Standorte der Leitstellen für Stromnetz und Wasserkraftwerke bereitgehalten, sodass für die Leitstellen jederzeit in einen Zwei-Standort-Betrieb gewechselt werden kann.“
Die Deutsche Polizeigewerkschaft fordert indes eine Ausnahme von den Quarantäne-Vorschriften für die Polizei als Teil der kritischen Infrastruktur. „Die Einsatzfähigkeit der Polizei darf nicht dadurch eingedürfte schränkt werden, dass Polizeibeschäftigte nach dem Kontakt mit Omikron-Infizierten wegen einer 14-tägigen Quarantäne ausfallen“, sagte der Landesvorsitzende Jürgen Köhnlein. „Zur Vermeidung eines Notbetriebs bei der Polizei müssen geboosterte Polizeibeamtinnen und -beamte stattdessen die Möglichkeit haben, sich beispielsweise nach sieben Tagen freizutesten.“Die Polizei sei ohnehin durch die Kontrolle der Einhaltung von Corona-Regeln und Einsätzen bei Corona-Protesten zusätzlich gefordert.
Auch die Privatwirtschaft sorgt vor – ist aber bislang zuversichtlich, die neue Corona-Welle zu bezwingen. Unter anderem, weil sie in den vergangenen zwei Jahren einen Lernprozess durchgemacht hat. Weil im Frühjahr 2020 viele Fahrer aus Osteuropa wegen der Pandemie in ihre Heimatländer zurückkehrten, brachen manche Lieferketten zusammen. Das soll sich nicht wiederholen. „Die Logistikbranche ist im Umgang mit dem anhaltenden Pandemiegeschehen inzwischen äußerst routiniert, sodass zum jetzigen Zeitpunkt trotz dünner Personaldecken keine versorgungsrelevanten Ausfälle größeren Ausmaßes zu befürchten sind“, sagt Frank Huster, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands Spedition und Logistik. „Entscheidend ist, dass die Politik nicht ad hoc Maßnahmen beschließt, sondern die Pandemieentwicklung antizipiert, Gesetzesänderungen mit Folgeabschätzungen verknüpft und diese mit ausreichendem Vorlauf ankündigt.“
Die Lebensmittelbranche bereitet sich mit Pandemieplänen vor. „Es gibt zwar keine Garantie, dass es nicht stellenweise zu Stockungen im Produktionsablauf kommt, wenn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Quarantäne müssen, aber wir können versichern, dass wir als Branche alles in unserer Macht Stehende tun, um durch präventive betriebliche Maßnahmen der Ausbreitung des Coronavirus und jetzt der OmikronVariante vorzubeugen“, sagt der Hauptgeschäftsführer des Lebensmittelverbands Deutschland, Christoph Minhoff. Gerade haltbare Lebensmittel wie Nudeln, Reis, Tiefkühlprodukte oder Konserven seien ohnehin in großer Menge vorproduziert und könnten abgerufen werden.