Francesca Melandri: Alle, außer mir (14)
AStellen Sie sich vor: Eines Tages steht vor Ihrer Tür ein junger, dunkel häutiger Flüchtling, der begründet behauptet, Enkel Ihres Vaters zu sein. Was wird nun passieren? Ein Szenario, hier – nicht ohne Sarkasmus – in einer römischen Familiengeschichte über drei Generationen hinweg durchgespielt. © 2018 Verlag Klaus Wagenbach, Berlin
nita war eine exzellente Köchin, verstand aber überhaupt nichts von Wein. Als sie die Tür öffnete, drückte Ilaria ihr eine Flasche in die Hand.
„Danke, meine Liebe. Du bist die Erste, deine Brüder sind noch nicht da.“
„Wo ist Papà?“, fragte Ilaria mit Blick auf den leeren Sessel.
„Wieder mal abgehauen.“Die Frau ihres Vaters klang ganz gelassen. „Diesmal hat er die Autoschlüssel mitgenommen.“
„Was? Aber er kann doch nicht fahren. Er ist ein öffentliches Verkehrsrisiko!“
„Ja, das stimmt, in der Stadt lasse ich ihn auch nicht fahren. Nur auf der Autobahn.“
Ilaria kniff die Augen zusammen und wartete schweigend auf die Erklärung, dass dies ein Witz war. Doch Anita sagte nichts.
„Das verstehe ich nicht…“, stieß Ilaria hervor, „du hältst also einen Neunzigjährigen, der mit hundert Stundenkilometern zwischen den
Lkw rumkurvt, für eine gute Idee?“„Warum nicht? Er muss nur den fünften Gang einlegen, dann fährt er ganz ruhig.“
„Äh,… ihr seid komplett verrückt! Und du bist noch verrückter als er, weil du nicht die Ausrede des hohen Alters hast.“
„Oh, wie melodramatisch! Dein Vater ist doch keine hundertzwanzig.“
„Nein, genau, sondern erst dreiundneunzig. Ein junger Hüpfer.“
Wie immer, wenn sie überführt wurde, lenkte Anita ein. „Ich weiß, ich weiß. Aber was soll ich machen, für mich bleibt er nun mal immer so jung wie damals, als ich ihn kennenlernte …“
„Als du ihn kennenlerntest, war er schon lange kein junger Hüpfer mehr“, dachte Ilaria. Er war fünfzig, hatte eine Frau, drei Kinder und einen Kredit für eine herrschaftliche Wohnung abzubezahlen, der seine Möglichkeiten überstieg.
Doch die ohnehin mühselige Aufgabe, jemandem reale Fakten nahezubringen, die er nicht hören will, war bei Anita hoffnungslos. Ihr fügsames Lächeln brach sofort auf wie eine überreife Frucht und beendete jede Diskussion. Ilaria ließ ab und seufzte halb genervt, halb besorgt.
„Also gut, was machen wir? Soll ich ihn suchen gehen?“
„Ganz ruhig, meine Liebe. Dein Vater kommt immer zurück.“
Federico fand ihn dann. Er stand reglos neben einem Zeitungskiosk und betrachtete verwirrt den Verkehr.
„Papà!“, rief sein Ältester aus dem Taxi heraus, das rechts rangefahren war. „Was machst du hier? Komm, steig ein!“
Attilio gehorchte mit gleichgültiger Sanftmut. Ohne Gruß stieg er auf der Seite ein, wo Federico ihm die Tür aufhielt, und ließ sich schwer auf die Rückbank fallen.
„Immer unterwegs, was?“, meinte sein Sohn gut gelaunt. „Schön, schön, gut so. Es lebe die Freiheit.“
Attilio betrachtete den Mann um die fünfzig, seine blauen Augen, die ihn an etwas erinnerten, das helle Jackett über dem sportlichen Körper. Seine langen Haare wie die eines Touristen waren sonnengebleicht, mit mädchenhafter Geste strich er sie sich immer wieder aus der Stirn.
„Du bist der, der in Mexiko lebt.“
Federico lachte leise auf. „Genau!
Der bin ich höchstpersönlich. Und morgen kehre ich nach Mexiko zurück. Ich hatte in Rom ein paar Nervigkeiten zu regeln. Im Übrigen, wo wir schon dabei sind… Ich habe hier etwas.“Aus einer aus Lederriemen gewebten Tasche zog er ein paar Blätter und einen Stift.
„Erinnerst du dich noch an die Bürgschaft, die du für den Kredit meines Pubs geleistet hast? Sie ist abgelaufen und muss erneuert werden. Ich muss sie morgen unterschrieben zum Notar bringen. Weil der Notar ein Freund ist, drückt er ein Auge zu, wenn du nicht in seiner Anwesenheit unterschreibst. Dann musst du nicht extra dorthin, Autofahren, Parkplatz suchen… Wenn du jetzt unterschreibst, können wir uns das ganze Ambaradam sparen.“
„Sag nicht dieses Wort, sag einfach Tamtam“, brummte Attilio mit düsterem Blick, nahm aber den Stift. Seine Hände zitterten, und bei den Fahrbewegungen des Autos konnte er nicht einmal den Stift ansetzen.
„Warte, wir sind gleich da“, sagte Federico. Das Taxi erreichte Anitas Häuserblock. „Hier ist es, bitte.“
Als der Wagen stand, legte der Sohn die Unterlagen auf die Tasche. Konzentriert und wortlos unterschrieb der Vater die Papiere, die er eins nach dem anderen vorgelegt bekam. Dann half ihm Federico aus dem Taxi und ging mit ihm zur Haustür, um zu klingeln. Aus der Sprechanlage erklang eine metallene Stimme: „Wer ist da?“
„Anita, ich bin’s, Federico. Ich habe Papà hier.“
„Ah, zum Glück!“Die Stimme entfernte sich, an jemanden im Zimmer gewandt. „Er wurde gefunden. Er ist unten bei Federico.“
„Ich schicke ihn dir mit dem Aufzug hoch.“
„Was heißt das, du schickst ihn hoch? Und du? Kommst du nicht?“
„Nein, entschuldige. Ich fliege morgen wieder und muss noch tausend Sachen erledigen.“
„Aber das Mittagessen ist doch extra für dich… Wir haben uns seit Jahren nicht mehr alle zusammen gesehen.“
„Tut mir leid, Anita, ich schaffe es wirklich nicht. Das nächste Mal nehme ich mir alle Zeit der Welt.“
Federico brachte seinen Vater zum Aufzug, öffnete ihn und half ihm hinein. Er legte seine Arme um ihn und drückte mit gespitzten Lippen zwei Küsse in die Luft. Der Vater tat es ihm nach wie Kinder, die die Gewohnheiten der Erwachsenen nachahmen, ohne sie recht zu verstehen. Die gläsernen Türen des Aufzugs wollten sich schließen, doch Attilio hielt sie mit der Hand auf.
„Du bist nicht reich geworden, oder?“, fragte er seinen Erstgeborenen skeptisch.
Federico lächelte ihn fröhlich an. „Nein, Papà. Reich nicht. Aber ich komme zurecht.“
Dann fuhr der Aufzug, den Anita bestellt hatte, hinauf in den fünften Stock. Federico wartete, bis er weg war, und verließ die Halle. Er ging über den Bürgersteig zu dem wartenden Taxi. Er öffnete gerade den Wagenschlag, als aus der Sprechanlage eine aufgeregte Stimme schrillte.
„Federico! Federico, bist du noch da?“
Er kehrte um und näherte den Mund der Anlage.
„Ja, Anita, was ist los?“„Papà will dir etwas sagen.“„Ja, aber schnell, mein Taxameter läuft…“
Ein Rauschen, während der Hörer in unsichere Hände gegeben wurde, dann Attilios Stimme. „Federico.“
„Ja, Papà?“
„Hör zu. Ist es lange her, dass wir uns gesehen haben?“
„Nein… nicht sehr lange. Letzten Sommer habe ich dich besucht. Vor weniger als einem Jahr.“
„Aha. Dann kommst du diesen Sommer wieder?“
„Das schaffe ich wahrscheinlich nicht, Papà. Vielleicht nächstes Jahr.“