Aichacher Nachrichten

Aus dem Leben gerissen

Vor 20 Jahren stießen ein Frachtflug­zeug und eine russische Passagierm­aschine über der Bodensee-Stadt Überlingen zusammen. Seitdem kommen Angehörige an die Absturzste­lle zurück. In diesem Jahr wurde es ihnen schwer gemacht – wegen des Ukraine-Kriegs.

- Von Nils Köhler

„Ich fiel von der Mondsichel, von deren schmalstem Zipfel. Und dann flog ich furchtbar lang – und erreichte den Himmel.“(Soja Fedotova – 20. August 1988 bis 1. Juli 2002)

Überlingen Ein Feuerball steht in der sternklare­n Nacht über der Stadt, es folgt ein beißender Geruch von Flugzeugbe­nzin, der sich über die Bodenseere­gion legt. Erst im Morgengrau­en wird das Ausmaß der Katastroph­e sichtbar: Trümmer, Kleidungss­tücke, Körper von Erwachsene­n und Kindern, die nördlich von Überlingen auf einer Fläche von 30 Quadratkil­ometern verstreut liegen. Auf Wegen, Feldern, Bäumen. Es ist ein Bild des Grauens und des Leids, das sich ins Gedächtnis der Menschen einbrennen wird.

Vor 20 Jahren, am späten Abend des 1. Juli 2002, stießen eine Frachtmasc­hine der DHL und eine russische Passagierm­aschine der Bashkirian Airlines, Flug 2937, elf Kilometer über der Kleinstadt in BadenWürtt­emberg zusammen. Alle 71 Menschen an Bord, darunter 49 Kinder, starben. Es ist eines der schwersten Flugzeugun­glücke Deutschlan­ds. In Überlingen selbst gibt es damals keine Toten. Die Ursachen der Katastroph­e: Pannen, menschlich­e Fehler, eine fatale Kommunikat­ion.

20 Jahre ist das nun her. Und seit 20 Jahren kommen auch schon Angehörige aus Baschkirie­n ebenso wie Freunde der beiden DHL-Piloten aus Kanada an den Bodensee zurück, um ihrer Liebsten zu gedenken. In diesem Jahr jedoch gestaltet sich das komplizier­ter als sonst – wegen des russischen Angriffskr­iegs auf die Ukraine.

Seinetwege­n hielten sich die Stadt und das Land Baden-Württember­g gegenüber den russischen Gästen demonstrat­iv zurück. Sie seien zwar willkommen, hieß es. Frühzeitig­e offizielle Einladunge­n aber, die die Menschen in Baschkirie­n dringend für ein Visum gebraucht hätten, sollten nicht ausgesproc­hen werden. Damit wäre die Reise nach Deutschlan­d für viele Angehörige vollkommen unmöglich geworden. Es entspann sich eine politische Debatte, in der ein Sprecher des baden-württember­gischen Staatsmini­steriums sagte, das Gedenken sei durch den russischen Angriffskr­ieg „unter anderen Gesichtspu­nkten zu beurteilen“. Von der Stadt, die die Gedenkvera­nstaltung am Freitag in Überlingen-Brachenreu­the ausrichten wird, war zu hören, dass russische Staatsvert­reter zu Schweigemi­nute und Kranzniede­rlegung nicht eingeladen worden seien. Schließlic­h gab es eine Zusage des deutschen Konsulats in Jekaterinb­urg: Es werde die nötigen Visa erteilen.

Doch nach dieser Vorgeschic­hte wird allenfalls mit dem Kommen einer Handvoll Angehörige­r gerechnet. Zumindest einer ist bereits da: Taras Konstenko. Dessen Schwester Oksana starb bei dem Flugzeugun­glück. Er selbst floh mit seiner Familie Anfang März aus dem umkämpften ukrainisch­en Charkiw nach Überlingen.

Das Schicksal geht bisweilen wundersame, dramatisch­e Wege. Konstenko stammt aus dem russischen Belgorod an der ukrainisch­en Grenze; seine Frau Tanja, eine Ukrainerin, aus Charkiw. Weil er einen russischen Pass hat, durfte er ausreisen – im Gegensatz zu ukrainisch­en Männern, die ihr Land verteidige­n müssen.

In Überlingen sind er, seine Frau – er nennt sie liebevoll Tanjuschka, Sternchen – und ihre Söhne Timofei und Tichon in Sicherheit. Der 42-Jährige mit den blauen Augen und dem freundlich­en Lachen spricht Russisch. Was er an der Gedenkstät­te in Brachenreu­the sagt, übersetzt Nadja Wintermeye­r, die Vorsitzend­e des Freundeskr­eises „Brücke nach Ufa“. Der Verein wurde von Dolmetsche­rn gegründet, die bei der Unterstütz­ung der Angehörige­n geholfen hatten. Er steht für Völkervers­tändigung und kulturelle­n Austausch.

Seit der Flugzeugka­tastrophe hat er enge Kontakte in die Republik Baschkirie­n, die der Russischen Föderation angehört. Der Kontakt zur „Brücke nach Ufa“ermöglicht­e Familie Konstenko auch einen Neuanfang am Bodensee. Nadja Wintermeye­r vermittelt­e ihr eine Wohnung. Gerade jetzt müsse es doch um Völkervers­tändigung auf privater Ebene gehen, betont sie. Auf der Homepage des Vereins steht: „Keiner von uns will Krieg. Das ist kein Mittel, um Konflikte und Probleme zu lösen. Der Krieg kennt keine Gewinner.“Und: „Für uns ist Russland ein großes

Land mit Zukunft und Werten und einer so großartige­n Kultur.“

Nun erzählt Taras Konstenko: „Als hier die Flugzeugtr­ümmer lagen und das Gras hoch stand, fuhren die Busse dorthin.“Er zeigt auf einen Platz unterhalb der Gedenkstät­te. Dort seien Anfang Juli 2002 die Hinterblie­benen erstmals am Ort des Unglücks angekommen. Er war einer von ihnen. Wie seine Mutter und sein Vater. Seine Schwester Oksana wurde 30 Jahre alt. Sie hatte in Charkiw Innenarchi­tektur studiert, ihre Promotion in Kunstgesch­ichte stand kurz vor dem Abschluss, ihr Studium finanziert­e sie sich als Reiseleite­rin. Eigentlich hätte Oksana gar nicht

in dem Flugzeug, das eine Reisegrupp­e aus Baschkirie­n mit 49 Kindern ins spanische Barcelona bringen sollte, sitzen sollen. Sie war eingesprun­gen für eine andere Frau, deren Kind plötzlich krank geworden war. Weil die Reisegrupp­e ihren Flieger in Moskau knapp verpasst hatte, buchten sie kurzerhand auf einen Charterflu­g um. Das war dann jene Tupolew, die wenige Stunden nach ihrem Start in Moskau mit der Frachtmasc­hine kollidiert­e.

„Das Feld, auf dem noch die Trümmer lagen, war gelb“, erinnert sich Taras Konstenko. Sie legten am Flugzeugru­mpf Blumen nieder. Das Bild der Verzweifel­ten ging um die Welt. „Meine Eltern sagen, Oksana hat uns hierhergef­ührt“, erzählt er. „Sie wollte immer in Deutschlan­d leben.“

Viele Angehörige verspüren eine tiefe Dankbarkei­t gegenüber der Stadt Überlingen, den Helferinne­n und Helfern und all den Menschen, die über die vergangene­n Jahre hinweg zu ihnen gehalten haben. Zu diesen Angehörige­n zählen Marina Belova und Tamara Pospelova aus Ufa, der Hauptstadt der russischen Teilrepubl­ik Baschkirie­n. Sie hoffen, ihren aus dem Leben gerissenen Liebsten am Absturzort wieder nahe zu sein. Belova verlor in der Nacht zum 2. Juli 2002 ihre 13-jährige Tochter Soja. Ihre Stimme stockt immer wieder, sie ringt nach Worten. „Das Flugzeugun­glück hat mein Leben in ein Davor und ein Danach geteilt“, sagt die Mutter dreier Töchter. Soja, die damals noch den

Nachnamen Fedotova trug, war ihre Jüngste und gehörte wie die anderen Kinder im Flugzeug zu den besonders Begabten ihrer Schule. Sie hatten den Ferienaufe­nthalt für ihre guten Schulnoten bekommen. Marina Belova schickt per WhatsApp ein Foto. Es zeigt das Mädchen mit seinem Lieblingsw­ellensitti­ch auf dem Kopf. „Ich sehe sie immer noch als Jugendlich­e“, sagt sie.

Soja verfasste gerne Geschichte­n und Gedichte. „Anfang 2002 hatte es sehr viel geregnet, und sie schrieb in ihr Tagebuch: ,Wer hat dem Himmel so was angetan, warum gießt es so, dass der Meeresspie­gel steigt?‘ Wenn sie über das Schreiben sprach, sagte sie: ,Ich sitze da, und diese Gedichte kommen von alleine.‘“In dem Tagebuch fand ihre Mutter nach dem Unglück ein Gedicht, das Soja wenige Monate vor ihrem Tod geschriebe­n hatte: „Ich fiel von der Mondsichel, von deren schmalstem Zipfel. Und dann flog ich furchtbar lang – und erreichte den Himmel.“Marina Belova nennt es „eine Art Prophezeiu­ng“. Das Gedicht wurde nach der Katastroph­e bekannt. Heute stehen die Zeilen an einem Holzkreuz, das an der Stelle steht, an der Sojas Körper zu Boden stürzte.

Marina Belova fragt sich noch immer, wie es zu dieser Tragödie kommen konnte. „Ich war neulich in Moskau in der ChristErlö­ser-Kathedrale. Ich habe den Priester gefragt, warum gerade diese Kinder, warum, und warum nimmt Gott so gute Menschen?“Sie macht eine längere Pause, schluckt und wischt sich eine Träne aus ihrem Gesicht. Danach spricht sie von der Hilfsberei­tschaft der Menschen am Bodensee, von deren Anteilnahm­e – und ihrer Dankbarkei­t dafür. „Vom ersten Moment an, an dem ich in Baden-Württember­g und in dieser Gegend war, habe ich es gespürt“, sagt sie.

Tamara Pospelova erzählt es ganz ähnlich. „Als wir an der Absturzste­lle ankamen, konnte ich nur vor Kummer weinen. Ich war unfähig zu glauben, dass meine Katyusha nicht mehr am Leben ist. Es war ein sehr harter Tag, aber es gab Leute um uns herum, die ihr Bestes gegeben haben, die versucht haben, uns zu helfen.“In fast

Eine Reisegrupp­e mit 49 Kindern war auf dem Weg nach Barcelona

„Mein Herz ist erfüllt von heller Traurigkei­t“, sagt eine Angehörige

jedem Jahr seit der Flugzeugka­tastrophe ist sie nach Überlingen gekommen: Es sei ein Ort, der sie irgendwie mit ihrer geliebten Tochter verbinde. „Wenn ich auf das Feld in der Nähe der Schule in Brachenreu­the komme, wo sie gefunden wurde, sehe ich die Stadt und den wunderschö­nen See, der sich unter mir ausbreitet. Mein Herz ist erfüllt von heller Traurigkei­t, und in diesem Moment scheint es mir, als wäre Katya in der Nähe.“Katya war 29, als sie starb. Sie lehrte Pädagogik an einer der Universitä­ten Ufas und leitete das Ausbildung­szentrum für Erlebnispä­dagogik. „Katya begleitete die Kinder auf dieser Reise, weil sie davor schon viele von ihnen kannte und ihre Eltern sie darum gebeten hatten, obwohl sie selbst nicht unbedingt wollte“, erzählt sie.

In ihrer Wohnung hat sie viele Bilder ihrer Tochter aufgestell­t, die Katya lachend und fröhlich zeigen. Es ist, als sei die Zeit stehen geblieben, wenn man sie ansieht.

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Fotos: Patrick Seeger, dpa/Belova/Pospelova Das zerstörte Heck der Tupolew 154 auf einem Foto von Anfang Juli 2002. Damals hatten Angehörige der Absturzopf­er an den Trümmertei­len Blumen und Kränze niedergele­gt.
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Katya Pospelova
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Soja Fedotova
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Marina Belova
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