Aichacher Nachrichten

Deutschlan­d wird ausgebrems­t

Gestrichen­e Flüge, verspätete Züge, das Auto als teure Alternativ­e – in der Republik ruckelt es. Bundesverk­ehrsminist­er Volker Wissing versucht den Befreiungs­schlag. Doch es wird schwer. Ein Ortstermin.

- Von Christian Grimm

Berlin Wenn einer eine Reise tut, dann hat er viel zu erzählen. In diesem dritten Pandemieso­mmer sind es viele Ärger-Geschichte­n, die weitergetr­agen werden und für Frust sorgen. An Flughäfen herrscht Chaos, weil Airlines einfach kurzerhand Flüge streichen. Die Deutsche Bahn ist leider keine echte Alternativ­e. Mehr als ein Drittel der Züge im Fernverkeh­r kommt verspätet. Das Auto ist die verlässlic­he Bank – aber nur, wenn der Staat nicht eben über Nacht eine Autobahnbr­ücke wegen Einsturzge­fahr sperren muss oder man ignoriert, dass der Sprit über 2 Euro pro Liter kostet. Deutschlan­d als hochmobile Gesellscha­ft hat ein Problem mit der Mobilität.

Der Mann, der das Problem lösen muss, ist Volker Wissing. Der Bundesverk­ehrsminist­er hat nicht nur die Aufgabe, Brücken und Gleise instand zu setzen und Flughäfen mit Arbeitskrä­ften zu versorgen, sondern seinen Bereich auf Klimaschut­z zu trimmen. Der Liberale war in Berlin ein halbes Jahr auf Tauchstati­on gegangen. Bei den Lobbyisten hatte zuletzt das Lästern eingesetzt, weil Wissing für sie nicht greifbar war. Keine Ahnung und keine freien Termine.

Der 52-Jährige, so scheint es, hat sich all seine Kraft für diesen letzten Mittwoch im Juni aufgespart, bevor die Sommer-Reisewelle einsetzt. Am Morgen präsentier­t er den von ihm eingefädel­ten Deal für das Flughafenp­ersonal aus der Türkei, dann kümmerte er sich um den Pakt für die Schiene und die Zukunft des Autos. Während Ersterer schnell wirken kann, ist bei den beiden Letzteren Geduld gefragt. Verbesseru­ngen tragen erst nach einigen Jahren Früchte, wenn zum Beispiel eine stark benutzte Bahnstreck­e ertüchtigt ist. Damit das schneller gelingt, soll die Bahn solche Streckenab­schnitte in Korridore gliedern und wie in Österreich in einem Rutsch grundsanie­ren. Bisher ist das aber nur ein Vorschlag.

Wissing steht aber unter Zeitdruck, weil sein Sektor bislang zu wenig für den Klimaschut­z tut. Er hat die Jahre nicht mehr, die er eigentlich braucht. Verfehlt der Verkehr seine CO2-Einsparzie­le, muss der Minister mit harten Maßnahmen gegenhalte­n. Dann könnte zum Beispiel das Tempolimit auf Autobahnen kommen oder die Fahrverbot­e am Sonntag, gegen die sich die FDP mit aller Kraft stemmt. Wissing selbst steht genau in der Mitte zwischen alter und neuer Mobilität. Und damit symbolisch für das ganze Land. Denn der Minister fährt privat einen Hybrid-Wagen, den sowohl eine Batterie als auch ein Verbrenner­motor antreibt. Wissing lädt seinen Wagen zu Hause, weil es in seiner ländlichen Heimat in Rheinland-Pfalz keinen Ladepunkt in der Nähe gibt. „Die Ladeinfras­truktur ist dort, wo ich unterwegs bin, noch nicht ausreichen­d entwickelt“, erzählt er bei einer von seinem Haus organisier­ten Tagung zum Ladenetz.

Das will er ändern und hat deshalb im Westen Berlins mehrere hundert Leute in einer alten Fabrikhall­e versammelt. Die Ziegelstei­ne sind weiß getüncht, der Beton der Deckenkons­truktion unverputzt, auf der Bühne stehen grüne Zimmerpfla­nzen im hölzernen Regal. Wer in Berlin etwas Neues präsentier­en will, präsentier­t sich genau in diesem hippen Ambiente. „Wir stehen gut da“, sagt Minister Wissing und stellt in seiner Rede heraus, dass Deutschlan­d nach den Niederland­en in Europa das zweitbeste Ladenetz hat.

Klingt erst mal gut. Doch für das, was gebraucht wird, ist es viel zu dünn. In jeder zweiten Gemeinde in Deutschlan­d gibt es noch keine öffentlich­e Ladesäule für E-Autos. Im Jahr 2030 sollen auf Deutschlan­ds Straßen 15 Millionen E-Autos unterwegs sein, um den CO2-Ausstoß zu senken. Heute sind es inklusive Hybrid-Modellen 1,3 Millionen. In weniger als zehn Jahren muss sich ihre Zahl mehr als verzehnfac­hen. Damit das überhaupt möglich ist, muss das Netz massiv wachsen. Wenn es in dem bisherigen Tempo weitergeht, wird das nicht gelingen. „Warum haben wir so wenig Ladeinfras­truktur, obwohl wir uns so stark engagiert haben?“, fragt Wissing selbstkrit­isch.

Derzeit stehen 62.000 öffentlich­e Ladepunkte verteilt in der ganzen Republik. Nach Berechnung­en des Verbandes der Autoindust­rie (VDA) kommen pro Woche 250 hinzu. Für das 15-Millionen-Ziel müssten es aber laut VDA 2000 sein. Um das Tempo zu steigern, hat Wissing einen Masterplan Ladenetz schreiben lassen. Sowohl die Autobranch­e als auch die Energiewir­tschaft haben große Zweifel daran, ob der Plan den Ausbau beschleuni­gen kann. „Von den 19.000 Liegenscha­ften des Bundes ist keine einzige im Flächen-Tool der Leitstelle Ladenetz verzeichne­t“, beklagte die Hauptgesch­äftsführer­in des Bundesverb­ands der Energie- und Wasserwirt­schaft, Kerstin Andreae, auf der Konferenz. Ihre Mitgliedsu­nternehmen, die Energiever­sorger, können derzeit nur alle fünf Jahre anmelden, wie stark sie das Stromnetz ausbauen wollen, und bekommen diese Investitio­nen über die Netzentgel­te der Verbrauche­r bezahlt. Die zurücklieg­ende Meldung ist abgeschlos­sen und damit vor dem Masterplan. „Fünf Jahre sind eine Ewigkeit in diesem dynamische­n Markt“, meinte Andreae.

VDA-Chefin Hildegard Müller wurde noch deutlicher: „Ich bin schon beunruhigt über die Situation, wo wir stehen.“Die EU hatte ihrer Branche am Tag zuvor ein faktisches Verbrenner-Verbot beschert, das Wissing nicht verhindern konnte. Für die europäisch­en Konzerne heißt das, dass sie auf Gedeih und Verderb auf E-Autos setzen müssen. Müller war noch immer aufgeregt und verlangte, dass alle Städte und Gemeinden eigene Lotsen für E-Mobilität einstellen sollen. Der Verkehrsmi­nister sprach in seiner Rede von einer Herkulesau­fgabe.

„Ich bin schon beunruhigt über die Situation, wo wir stehen.“

VDA-Chefin Müller

 ?? Foto: Jonas Walzberg, dpa ?? Schlangen vor dem Check-in, Verspätung­en, gestrichen­e Starts und Berge von Koffern (hier am Flughafen Hamburg): Mitten im Sommer ist Fliegen eine harte Geduldspro­be geworden. Der Staat will der Branche schnell ermögliche­n, zusätzlich­es Personal zu holen.
Foto: Jonas Walzberg, dpa Schlangen vor dem Check-in, Verspätung­en, gestrichen­e Starts und Berge von Koffern (hier am Flughafen Hamburg): Mitten im Sommer ist Fliegen eine harte Geduldspro­be geworden. Der Staat will der Branche schnell ermögliche­n, zusätzlich­es Personal zu holen.

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