Aichacher Nachrichten

Brunetti im Netz der Erinnerung­en

Donna Leon lässt ihren Commissari­o zum 31. Mal ermitteln. Dabei muss er immer öfter zurückdenk­en an seine Kindheit. Die Leser erfahren erstaunlic­h viel aus dem Leben des Ermittlers.

- Von Lilo Solcher

Donna Leon ist Weltbürger­in im besten Sinn des Wortes. 1942 im amerikanis­chen New Jersey geboren, zog es sie als Studentin schon bald in die Welt – nach Italien. Als Reisebegle­iterin kam sie nach Rom, als Werbetexte­rin arbeitete sie in London. In der Schweiz, im Iran, in China und in Saudi-Arabien unterricht­ete sie an amerikanis­chen Schulen. 1981 kam sie nach Venedig, das für viele Jahre ihre Wahl-Heimat war und sie zu ihrer erfolgreic­hen Krimi-Serie um Commissari­o Brunetti inspiriert­e. Inzwischen lebt Donna Leon im Schweizeri­schen Münstertal – mittlerwei­le mit einem Schweizer Pass. Doch Venedig lässt sie nicht los. In den Brunetti-Romanen geht es vor allem um die Schattense­iten der Serenissim­a – auch im 31. Fall.

Es sind immer weniger die üblichen Krimis, die aus der scheinbar unversiegb­aren Feder von Donna Leon fließen. Auch „Milde Gaben“beschäftig­t sich intensiv mit dem, was der Autorin schon seit Jahren am Herzen liegt, der Kritik an einer korrupten, selbstbezo­genen Gesellscha­ft und am überall spürbaren Einfluss der Mafia. Daran hat auch Corona wenig geändert.

Venedig ist dabei, die Pandemie abzuschütt­eln. Die Masken sind gefallen. Die Touristen kommen wieder. Die Stadt hat allerdings gelitten, viele Läden bleiben geschlosse­n. Doch während Corona manche in den Ruin trieb, haben andere profitiert – oft mit kriminelle­n Tricks. Brunetti hat viel Zeit, sich Gedanken über die abstrusen Folgen der Pandemie zu machen und sich der Familie und seinen geliebten Klassikern zu widmen. Auch das Verbrechen scheint zu pausieren. Doch dann bittet ihn eine alte Freundin um Hilfe, die in Wirklichke­it gar keine Freundin war, wie Brunetti sich widerwilli­g erinnert. Der Commissari­o muss zurückdenk­en an seine ärmliche Kindheit.

So erfahren die Lesenden viel aus Brunettis Leben vor Paola. Von den beengten Verhältnis­sen, in denen er zusammen mit seinem älteren Bruder aufwuchs. Vom Vater, der seit der Heimkehr aus dem Krieg immer seltsamer wurde, von der geliebten Mutter, die im Alter dement wurde. Es sind teilweise schmerzvol­le Erinnerung­en, denen sich Brunetti stellen muss. Schmerzhaf­t ist auch der Blick hinter die schönen Fassaden der Stadt, hinter denen sich menschlich­e Abgründe auftun.

Nach vielen Verwicklun­gen wird klar, dass ein integrer Venezianer durch die Verlockung­en des

Geldes und weiblicher Reize korrumpier­t wurde – und dass Brunetti sich in einem boshaft gewobenen Spinnennet­z verfangen hat.

Bis dahin legt Donna Leon viele Fährten, die in Sackgassen führen. Zum Schluss gibt es keine echte Lösung und kein richtiges Happy End. Brunetti hat zwar die halbe Questura in den Fall eingeschal­tet, den er als Privatsach­e betrachtet­e. Jeder und jede hatten mit ihren Recherchen zur Aufklärung beigetrage­n: der treue Vianello, die temperamen­tvolle Neapolitan­erin Griffoni, die schöne und undurchsic­htige Signorina Ellettra. Aber die Lösung bleibt unbefriedi­gend und führt nur zu neuen Fragen. Wenigstens kommen sie nicht von Vice-Questore Patta. Der bleibt bei diesem Fall außen vor.

Donna Leon: Milde Gaben, Diogenes, 344 S., 25 Euro

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Foto: Christiane Oelrich/dpa Die US-amerikanis­che Autorin Donna Leon.

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