Erdogan greift nach Kreta
Zwischen der Türkei und Griechenland herrscht ein Kalter Krieg, der in einen militärischen Konflikt umschlagen könnte. Aus Ankara kommen immer schärfere Drohungen. Vor allem die jüngsten Entwicklungen lösen Ängste aus – viele fühlen sich an Putins Vorgehe
Athen/Ankara Noch weht über der mittelalterlichen Burg am Hafen von Rhodos die weiß-blaue Griechenfahne. Sie weht auch auf Kreta allerorten. Und auch auf Lesbos oder Samos. Wenn es nach Devlet Bahceli geht, dem Chef der ultranationalistischen türkischen Partei MHP, flattert auf den Inseln aber schon bald die rote türkische Flagge mit Mondsichel und Stern. Er will Rhodos, die umliegenden Inseln des Dodekanes und einige nordägäische Inseln der Türkei einverleiben. Nach Kreta greift er ebenfalls.
Kreta, das für ungezählte deutsche Touristinnen und Touristen zum Synonym für Griechenland wurde, das als „Insel der Götter“und „Wiege Europas“gilt; zu dem ein Reiseveranstalter erklärt: Der griechische Göttervater Zeus habe sich dereinst in die schöne Europa verliebt, sie in Gestalt eines schneeweißen Stieres nach Kreta entführt und auf der Insel drei Söhne mit ihr gezeugt... Kreta also soll türkisch werden?
Es war Anfang Juli, als Bahceli in Ankara das Hauptquartier der Grauen Wölfe besuchte, der militanten Kampforganisation seiner Partei. Ahmet Yigit Yildirim, der Präsident der Organisation, wartete dort bereits mit einem besonderen Geschenk auf ihn: einer großen, in vergoldetem Rahmen gefassten Landkarte. Sie zeigt in kräftigem Rot den Westen der Türkei und in einem blassen Grünton den Osten Griechenlands. Dazwischen liegt blau die Ägäis. Aber während nach dem geltenden Völkerrecht die Grenze zwischen Griechenland und der Türkei unmittelbar vor der kleinasiatischen Küste verläuft, gehört auf dieser Karte die gesamte Osthälfte der Ägäis zur Türkei – einschließlich der dort gelegenen griechischen Inseln.
Ein Foto auf Twitter zeigt Bahceli, wie er mit Yildirim die Landkarte den Pressefotografen präsentiert. Beide in Anzug und Krawatte, beide in weißen Hemden und mit entschlossenem Blick. Die Karte trägt den Titel „Unser nationaler Schwur auf den Meeren“. Bahceli, muss man wissen, ist kein unbedeutender Mann, kein Komparse in dem politischen Stück, das hier gegeben wird. Devlet Bahceli ist eine Art Hauptdarsteller in der Türkei. Der Ultranationalist ist Koalitionspartner von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan. Ohne Bahcelis MHP hat Erdogans islamisch-konservative Regierungspartei AKP keine Mehrheit im Parlament.
Die Veröffentlichung der Karte sorgte für Wirbel in Griechenland. Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis forderte eine Klarstellung. Auf Twitter schrieb er am 11. Juli auf Englisch: „Fiebertraum von Extremisten oder offizielle türkische Politik? Eine weitere Provokation oder das wahre Ziel?“Erdogan müsse „zu den jüngsten Eskapaden seines Juniorpartners Stellung beziehen“. Mitsotakis begann seinen Tweet mit dem Satz: „Sehen Sie sich diese Landkarte gut an.“Bis heute wurde der Beitrag mehr als 4500-mal geteilt. Bis heute schweigt Erdogan.
Dass er sich von den Grauen Wölfen und seinem Koalitionspartner Bahceli distanziert, ist nicht zu erwarten. Er braucht die Stimmen der türkischen Nationalisten bei den nächsten, spätestens im Frühjahr 2023 anstehenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen dringender denn je. Politische Beobachter erwarten deshalb, dass Erdogan die Konflikte mit Griechenland in den nächsten Monaten sogar noch weiter anheizen wird.
Seit Monaten zieht die türkische Regierung die griechische Souveränität über 22 Ägäis-Inseln in Zweifel. Dazu zählen Lesbos, Chios und Samos, die nach 350 Jahren türkischer Besatzung 1923 mit dem Vertrag von Lausanne an Griechenland zurückfielen, sowie die Dodekanes-Inselgruppe um Rhodos und Kos. Sie wurden 1947 mit dem Vertrag von Paris wieder griechisch. Die türkische Regierung argumentiert, Athen habe auf diesen Inseln Militär stationiert und verstoße damit gegen
die Verträge von Lausanne und Paris. Damit verliere Griechenland seine Hoheitsrechte über diese Inseln.
Griechenland rechtfertigt die Stationierung von Militäreinheiten auf seinen Inseln mit dem Recht auf Selbstverteidigung, so wie es in der Charta der Vereinten Nationen festgeschrieben sei. Athen verweist auf die Bedrohung durch die Türkei, die an der Ägäis-Küste die größte Flotte von Landungsschiffen im gesamten Mittelmeer stationiert hat. Im Juni war der türkische Staatspräsident Erdogan persönlich an die Küste gereist. An einem Strand direkt gegenüber der griechischen Insel Samos beobachtete er ein Militärmanöver. Türkische Landungstruppen probten die Einnahme eines Küstenabschnitts. Die Übung fand an einem türkischen Strand statt, aber gemeint gewesen sein dürfte Samos, das nur wenige Kilometer entfernt liegt.
Der Konflikt um die Hoheitsrechte in der Ägäis schwelt seit Jahrzehnten. Urlauber werden sich dafür kaum interessieren, auch wenn sie von einem Reiseveranstalter im Falle Kretas zum Beispiel über diese Eckdaten informiert werden:
„1669–1821 Türkische Zeit: Die Insel wird unter Druck islamisiert. Sämtliche Kirchen werden in Moscheen umgebaut.
1821–1898 Befreiungskriege: Verschiedene blutige Aufstände gegen die Türken werden niedergeschlagen.
1898–1913: Kreta wird ein selbstständiger Staat, der eng mit dem Königreich Griechenland verbunden ist.“
1913 freilich ist lange her, und wer seinen Urlaub vor sich hat, vielleicht der erste nach einschränkungsreichen Corona-Jahren, denkt lieber an Sonne, Strand, Meer, Oliven und Ouzo. Und, wer mag es einem
verdenken, nicht an Erdogan und dessen Provokationen.
Doch denen ist kaum mehr zu entgehen. Wer sich im Internet nicht nur über Flüge und Hotels informierte, stieß Ende Mai auf einen Bericht wie diesen: „Griechenland verlängert Grenzzaun zur Türkei um 80 Kilometer.“Und Anfang Juli auf Schlagzeilen wie diese: „Griechenland wirft Türkei 760 Luftraumverletzungen in einem Monat vor.“Und man liest: „Für das bisherige Jahr stellten die Griechen annähernd 4000 Verletzungen der Souveränität ihres Landes fest.“Und man liest weiter, dass die Lage zwischen den Nachbarländern mehrmals beinahe eskaliert wäre, zuletzt im Sommer 2020. Wochenlang standen sich damals griechische und türkische Kriegsschiffe im Mittelmeer gegenüber.
Früher ging es meist um kleine, unbewohnte
Eilande wie die Imia-Felseninseln, um die es im Januar 1996 fast zu einem Krieg gekommen wäre. Besorgniserregend anders geworden ist: Erstmals stellt jetzt die Türkei die Souveränität Griechenlands über große Inseln wie eben Rhodos oder Samos infrage – und probt in Militärmanövern demonstrativ Landungsoperationen. Der Kalte Krieg in der Ägäis droht in einen heißen militärischen Konflikt umzuschlagen.
Selbst die größte türkische Oppositionspartei CHP, die sich als sozialdemokratisch bezeichnet, heizt die Spannungen an. Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu forderte: „Wir müssen den Druck in der Ägäis erhöhen!“Er stachelte Erdogan an: „Wenn du den Mut hast, dann unternimm etwas wegen der (von Griechenland) besetzten Inseln – wir unterstützen dich!“So soll der Staatspräsident in Zugzwang geraten. Es ist eine gefährliche Politik. Zumal Erdogan immer weiter an der Eskalationsschraube dreht. Siehe Kreta. Dass Griechenlands größte Insel zur Türkei gehören soll, ist neu. Und klingt, etwa in Aussagen des Graue-Wölfe-Chefs Yildirim, bereits wie eine Selbstverständlichkeit. Die Landkarte der Grauen Wölfe zeige, „wo im türkischen Nationalbewusstsein die Grenze verläuft“, twitterte er und sprach von Kreta und den anderen Inseln als „unseren Inseln“– Inseln, auf denen die ruhmreiche türkische Flagge jahrhundertelang geweht habe, die jedoch „von Griechenland usurpiert“worden seien.
Verteidigungsminister Hulusi Akar kündigte an, die Türkei „habe einen Plan, ihre Rechte und Interessen in der Ägäis, dem östlichen Mittelmeer und auf Zypern zu verteidigen“. Dieser Plan werde „in verschiedenen Schritten und Phasen umgesetzt. Ins Detail ging Akar nicht. Auch Außenminister Mevlüt Cavusoglu hängt großtürkischen Träumen nach. Es gebe eine Türkei, die größer sei als die gegenwärtige türkische Republik. Die Türkei dürfe deshalb „nicht in ihren heutigen Grenzen gefangen sein“, sagte er. Und wer ihn so reden hörte, musste unweigerlich an den russischen Machthaber Wladimir Putin denken, der mit ähnlichen Argumenten seinen Angriff auf die Ukraine rechtfertigte. In Griechenland wächst die Sorge, Erdogan könnte sich am Kremlchef ein Beispiel nehmen. Was naheliegt, machen Erdogan und Putin doch keinen Hehl aus ihrer Sympathie füreinander. Hinzu kommt als verbindendes Element, dass sich Erdogan, wie Putin, aus ärmlichen Verhältnissen an die Staatsspitze kämpfte. Sie ticken ähnlich und haben Revisionismus ins Zentrum ihrer Politik gerückt. Putin strebt offenkundig die Wiederherstellung eines „großrussischen“Imperiums an, Erdogan schwelgt in neo-osmanischen Großmachtfantasien – und findet dafür unter anderem in den Grauen Wölfen Verbündete.
Die haben nach der denkwürdigen Präsentation ihrer Landkarte inzwischen nachgelegt: In einem Tweet heißt es, das derzeit „von Griechenland besetzte Kreta“sei „ein untrennbarer Teil des türkischen Vaterlandes“. Das türkische Volk habe die Kraft, sogar Athen zu zerstören, drohen die Nationalisten. Auch MHP-Parteichef Devlet Bahceli schlägt immer schärfere Töne an: „Die gestohlenen Inseln müssen dem Eigentümer zurückgegeben werden – entweder aus freien Stücken oder mit Gewalt.“
Worte wie diese haben Folgen. Zum Beispiel diese: Sie machen vielen Menschen in Griechenland Angst. Die Erinnerungen an das Jahr 1974 sind nicht verblasst. Im Gegenteil, denn erst am 20. Juli jährte sich die türkische Invasion auf Zypern. Athen war damals zunächst davon ausgegangen, dass die Flotte des Nachbarn nur eine Übung durchführe. In einer aktuellen Umfrage sagen 83 Prozent der befragten Griechen, sie seien wegen der Spannungen mit der Türkei sehr oder ziemlich besorgt. In einer anderen Erhebung äußerten 52 Prozent
Die Türkei will die Seegrenze neu ziehen
Im Meer standen sich schon Kriegsschiffe gegenüber
die Befürchtung, es werde noch in diesem Sommer zu einem militärischen Zwischenfall in der Ägäis kommen. Wie vor zwei Jahren, als der Streit um die Erdgasvorkommen im östlichen Mittelmeer zu eskalieren schien – als türkische und griechische Kriegsschiffe einander gefechtsbereit gegenüberlagen. Entschärft wurde der Konflikt unter Vermittlung Berlins und der Nato.
Wie es weitergeht? Werden den Drohungen tatsächlich Taten folgen? Und welche? Bekannt ist: Im August will die Türkei die „Abdülhamit Han“in die umstrittenen Seegebiete entsenden. Es ist das vierte Bohrschiff, das die Türkei in den vergangenen Jahren für die Explorationen vor ihren Küsten gekauft hat. Erdogan möchte offenbar nicht auf ausländische Gesellschaften angewiesen sein, die möglicherweise zögern könnten und vor potenziellen internationalen Sanktionen zurückschrecken. Der Name des Schiffes ist eng mit der griechisch-türkischen Geschichte verknüpft. Es heißt nach Abdülhamit II., der von 1876 bis 1909 Sultan des Osmanischen Reichs war. 1896 hatten sich die orthodoxen Griechen auf Kreta gegen die osmanischen Besatzer erhoben. Daraus entwickelte sich ein türkisch-griechischer Krieg. Er begann am 7. April 1897 und endete nach 30 Tagen mit einem Sieg der Osmanen – allerdings unter hohen Verlusten.
Es war ein Pyrrhussieg, wie man unter Anspielung auf den griechischen König Pyrrhos I. eine Schlacht nennt, aus der der Sieger ähnlich geschwächt hervorgeht wie der Besiegte. Den Aufstand auf Kreta hatte Abdülhamit zwar niederschlagen, den Zerfall des Osmanenreichs aber nicht aufhalten können. Im Dezember 1897 erhielt Kreta auf Druck der Großmächte eine weitgehende Autonomie. Durch den Vertrag von London 1913 wurde die Insel Teil des griechischen Staates. (mit wida)