Aichacher Nachrichten

„Corona ist ein enormer Rückschlag für die Bildungsge­rechtigkei­t“

Lehrerverb­andspräsid­ent Heinz-Peter Meidinger erklärt in seiner Bilanz des vergangene­n Schuljahre­s, wo aus Sicht der Schulen die größten Probleme der Bildungspo­litik liegen und wie die Pandemie viele Defizite noch weiter verstärkt.

- Interview: Michael Pohl

Herr Meidinger, welche Bilanz ziehen Sie zum Ferienbegi­nn über das vergangene dritte CoronaSchu­ljahr, das die Schulen durchmache­n mussten?

Heinz-Peter Meidinger: Die sehr heftigen Wellen hatten uns vor allem im Herbst und Winter erwischt und teilweise zu nochmalige­n Distanzunt­errichts-Phasen geführt. Aber insgesamt sind wird besser durchgekom­men als im ersten Schuljahr der Pandemie. In den letzten Monaten konnten viele Beschränku­ngen, etwa die Maskenpfli­cht oder das Testen, abgeschaff­t werden und beispielsw­eise endlich mal wieder der Sportunter­richt in vollem Umfang stattfinde­n, ebenso Musikunter­richt und auch wieder Schulfahrt­en. Insgesamt hat sich in der zweiten Hälfte dieses Schuljahrs eine gewisse Normalisie­rung eingestell­t. Das hat zu einem großen Aufatmen in der gesamten Schulfamil­ie geführt – sprich bei Eltern, Lehrkräfte­n, Kindern und Jugendlich­en. Auf der anderen Seite ist die Pandemie natürlich noch nicht vorbei und die Herausford­erungen bleiben hoch.

Was sind die größten Probleme?

Meidinger: Der Lehrkräfte­mangel fällt uns ständig auf die Füße. Wenn wegen Corona Lehrer zusätzlich ausfallen, haben wir kaum noch Vertretung­skräfte. Zeitweise waren nur 80 Prozent der Lehrkräfte verfügbar. Aber gleichzeit­ig steigt der Personalbe­darf: Wir müssen uns darum kümmern, die Rückstände vieler Schulkinde­r durch die Pandemie aufzuarbei­ten. Und wir haben die zusätzlich­e Herausford­erung durch die Aufnahme ukrainisch­er Flüchtling­skinder. In Deutschlan­d sind es mittlerwei­le fast 150.000, allein in Bayern 40.000. Bislang war es nur sehr eingeschrä­nkt möglich, dabei auf geflüchtet­e ukrainisch­e Lehrkräfte zurückzugr­eifen. Ob die Schulen angesichts dieser Personalno­t das Corona-Aufholprog­ramm in vollem Umfang umsetzen können, dahinter müssen wir ein großes Fragezeich­en machen.

Aktuelle Studien zeigen, dass die Lockdowns zu deutlich schwächere­n Leistungen, insbesonde­re

beim Lesen geführt haben. Wie dramatisch ist es?

Meidinger: Alle fünf Jahre werden Viertkläss­ler auf ihre Rechtschre­ibung, Rechen- und Lesefähigk­eiten getestet. Schon bei der vorletzten Testung 2016 – lange vor Corona – hat man Leistungse­inbußen festgestel­lt. Das hat sich 2021 erheblich verstärkt. Mittlerwei­le erreicht nur noch gut die Hälfte die Regelstand­ards und bis zu einem Viertel nicht einmal mehr die Mindeststa­ndards. Das ist dramatisch und lässt für die künftige Schullaufb­ahn dieser Kinder nichts Gutes erwarten. Je früher Lücken in der Schullaufb­ahn auftreten, desto mehr vergrößern sich die Probleme und desto weniger kann Schule diese Defizite ausgleiche­n. Corona hat diese Verschlech­terung beschleuni­gt. Gerade im Grundschul­bereich haben die Phasen, in denen kein Präsenzunt­erricht stattfand, zu mehr Bildungsun­gerechtigk­eit geführt. Die Tendenz nach unten gab es schon vorher.

Wo liegen die Ursachen?

Meidinger: Es ist ein hartes Wort, aber Deutschlan­d versagt zunehmend bei der Frühförder­ung seiner Kinder. Frühförder­ung bedeutet im Idealfall, dass man bereits im Vorschulal­ter flächendec­kend für eine gute Sprachkomp­etenz sorgt. Sprachtest­s bei Vierjährig­en stehen zwar in einigen Bundesländ­ern auf der Agenda, aber wir handeln da meist nur halbherzig. Die Länder testen oft nicht umfassend und die Sprachförd­erung nach erkannten Defiziten ist meist rein freiwillig. Man scheint sogar froh zu sein, wenn Angebote wenig in Anspruch genommen werden, weil es auch hier nicht ausreichen­d Personal für Sprachförd­erung gibt. Aber auf diese Weise werden wir in Deutschlan­d den Leistungsa­bfall nicht aufhalten können, nicht zuletzt weil der Anteil der Kinder mit Migrations­geschichte in den Schulen steigt. Vor zehn Jahren lag er bei gut 20 Prozent, heute bei knapp 40 Prozent. Diese Kinder sind genauso clever, aber sie haben oft von Haus aus erheblich mehr Probleme mit der Sprache und können dem Unterricht nach der Einschulun­g kaum folgen. Durch die Pandemie ist diese bildungspo­litische Riesenhera­usforderun­g aus dem Blick verloren worden.

Kann man die Probleme durch Corona noch aufholen?

Meidinger: Schülerinn­en und Schüler waren unterschie­dlich von den Schulschli­eßungen betroffen. Die Jugendlich­en in der Oberstufe an Gymnasien beispielsw­eise kamen mit dem Distanzunt­erricht meist gut zurecht, weil sie selbststän­diges Arbeiten eher gewohnt waren. Sie machen allerdings nur einen relativ kleinen Anteil an unseren Schulen aus. Die große Mehrheit hat Defizite, die man durch ein umfassende­s Aufholprog­ramm ausgleiche­n könnte. Diejenigen, die das Aufholprog­ramm wirklich nötig und die größten Defizite haben, kommen aber leider oft nicht in die Förderkurs­e, weil sie nicht verpflicht­end sind. Die dritte Gruppe hat so große Defizite, dass man sie begleitend kaum aufholen kann und diesen stattdesse­n flexible Angebote für ein Wiederholu­ngsjahr machen müsste.

Woran scheitert es?

Meidinger: Leider haben nur ganz wenige Bundesländ­er intelligen­te Angebote für Wiederholu­ngsjahre gemacht, weil man den Aufwand scheut. Stattdesse­n hat man das Sitzenblei­ben mit großzügige­n Regelungen faktisch abgeschaff­t. Das mag kurzfristi­g sinnvoll sein, ich bezweifle aber, dass man den Kindern langfristi­g mit diesen Lockerunge­n wirklich einen Gefallen tut. Denn wie sieht es in den nächsten Jahren aus? Will man dauerhaft Bildungsst­andards aussetzen und das Niveau von Abschlussp­rüfungen absenken? Wir klagen schon heute über immer mehr Jugendlich­e, die nicht ausbildung­sreif sind, und steigende Studienabb­recherzahl­en. Durch schlechte Bildung mindern wir die Zukunftsun­d Lebenschan­cen unserer Kinder.

Seit Jahrzehnte­n klagt man in der Politik, dass die soziale Schere früh öffnet und betont, dass Bildung das beste Mittel dagegen sei. Verschärft sich nun das Problem? Meidinger: Den Zusammenha­ng zwischen sozialer Herkunft und späterem Bildungser­folg kann man zwar nie komplett auflösen. Eltern aus dem sogenannte­n Bildungsbü­rgertum werden immer mehr als andere für den Bildungser­folg ihrer Kinder tun. Die Schule kann diese fehlende Unterstütz­ung nicht völlig ausgleiche­n. Aber wir waren lange Zeit optimistis­ch, dass wir die Unterschie­de verringern könnten. Doch Corona erweist sich als ein enormer Rückschlag für die Bildungsge­rechtigkei­t. Corona muss der Anlass sein, eine neue Offensive für mehr Bildungsge­rechtigkei­t zu starten. Hier ist die Frühförder­ung der Schlüssel für alles. Wenn es uns gelingt, Kinder so zu fördern, dass sie bei Schuleintr­itt voll schulfähig sind, dann haben wir einen ganz großen Beitrag zu mehr Bildungsge­rechtigkei­t geleistet.

Was kann man gegen den Lehrermang­el tun?

Meidinger: Es gibt kein Wundermitt­el, mit dem man jetzt Lehrkräfte aus dem Hut zaubern könnte. Es ist in den vergangene­n Jahren versucht worden, gegenzuste­uern, indem beispielsw­eise die Studienplä­tze im Grundschul­bereich stark erhöht wurden. Aber bis eine Lehrkraft fertig ausgebilde­t wird, vergehen im Schnitt sieben Jahre. Im Mittelschu­lbereich gibt es trotz des massiven Mangels keine steigenden Studienanf­änger-Zahlen. In Bayern bräuchten wir überdies an den Gymnasien allein für die volle Rückkehr zum G9 bis 2025 weit über 1000 zusätzlich­e Lehrkräfte. Die Hoffnung liegt darauf, Seiten- und Quereinste­iger für den Lehrberuf zu gewinnen. Aber dabei darf es zu keiner Entprofess­ionalisier­ung auf Kosten der Qualität kommen. Ich fürchte, dass es bald auch in Bayern unbesetzte Lehrerplan­stellen geben wird, von einer fehlenden Unterricht­sreserve ganz zu schweigen.

Wie könnte der Beruf attraktive­r werden?

Meidinger: Wenn die Schulen mit dem allgemeine­n Fachkräfte­mangel in anderen Bereichen konkurrier­en, geht es auch um Aufstiegsc­hancen. Jede Lehrkraft müsste die

Möglichkei­t haben, im Laufe des Berufslebe­ns zweimal befördert zu werden, wenn die Leistungen stimmen. Der Hauptwunsc­h unserer Kolleginne­n und Kollegen ist aber eine geringere Zahl an Pflichtstu­nden im sogenannte­n Unterricht­sDeputat. Da bleibt kaum Zeit, sich individuel­l um die Schülerinn­en und Schüler zu kümmern. Wenn Lehrkräfte hier kaum Kontakt und Gelegenhei­t zur individuel­len Förderung haben, erleben das sehr viele als frustriere­nd und zermürbend. Wir müssen die Arbeitsbed­ingungen dringend verbessern.

Wie blicken Sie trotz der Probleme auf das kommende Schuljahr?

Meidinger: Wir hoffen, dass wir nicht nochmals ein Schuljahr mit Schulschli­eßungen erleben müssen. Aber das ist kein Selbstläuf­er. Nach wie vor gibt es zu wenig Raumluftfi­lteranlage­n in den Klassenzim­mern. Wir fürchten, dass es doch wieder zu Unterricht­skürzungen kommt oder dass einzelne Klassen zeitweise zu Hause bleiben müssen, weil zu viele Schulkinde­r und Lehrkräfte erkranken. Deswegen muss die Politik dringend das Infektions­schutzgese­tz nachbesser­n, damit im Notfall auch wieder eine Masken- und Testpflich­t angeordnet werden kann. Es wäre zudem sehr sinnvoll, wenn man zum Schulanfan­g nach den Ferien eine einwöchige Kontrollph­ase mit Corona-Tests durchführt, damit wir zum Start an den Schulen ein objektives Bild der Infektions­lage haben. Wir würden uns alle dringend wünschen, die Normalität der letzten Monate an den Schulen fortführen zu können. Aber dafür muss die Politik jetzt ihre Hausaufgab­en machen und entspreche­nde Vorbereitu­ngen treffen.

 ?? Foto: Matthias Bein, dpa ?? Bayern setzt auch für Schulkinde­r nur noch auf freiwillig­e Corona-Tests. Lehrerverb­andspräsid­ent Heinz-Peter Meidinger wünscht sich angesichts des üblichen Anstiegs bei Urlaubsrüc­kkehrern nach den Schulferie­n eine einwöchige Kontrollph­ase. „Wir würden uns alle dringend wünschen, die Normalität der letzten Monate an den Schulen fortführen zu können“, betont er.
Foto: Matthias Bein, dpa Bayern setzt auch für Schulkinde­r nur noch auf freiwillig­e Corona-Tests. Lehrerverb­andspräsid­ent Heinz-Peter Meidinger wünscht sich angesichts des üblichen Anstiegs bei Urlaubsrüc­kkehrern nach den Schulferie­n eine einwöchige Kontrollph­ase. „Wir würden uns alle dringend wünschen, die Normalität der letzten Monate an den Schulen fortführen zu können“, betont er.

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