Aichacher Nachrichten

Eugen Ruge: Metropol (1)

- Folgt

Roman von Eugen Ruge

Moskau, 1930er Jahre: Ein deutsches Agenten-Ehepaar in Sowjet-Diensten kehrt in die Stadt zurück, um sich für den Kontakt mit einem angebliche­n Hochverrät­er zu rechtferti­gen. Doch niemand zeigt Interesse an ihnen, den überzeugte­n Kommuniste­n. Im Hotel Metropol, wo sie Unterkunft finden, wohnen auch andere Agenten. Die aber verschwind­en nach und nach…

© 2019 Rowohlt Verlag, Hamburg

Dann nämlich bekommt man im Lesesaal eine Bearbeitun­gsnummer, mit welcher man zur Buchhaltun­g geht. Hier erhält man einen Vordruck in doppelter Ausfertigu­ng. Damit geht man zu einer Sparkassen­filiale, um das Geld einzuzahle­n. Man lässt sich den Zahlungsei­ngang auf beiden Vordrucken bestätigen, gibt einen davon in der Buchhaltun­g ab und geht mit dem anderen, von Sparkasse und Buchhaltun­g gestempelt­en, zum Lesesaal, wo man gegen Unterschri­ft seine Kopien bekommt. Dies ist die Geschichte, die du nicht erzählt hast. Du hast sie mit ins Grab genommen. Du warst sicher, dass sie niemals wieder ans Licht kommt. Du hast dein Leben lang daran gearbeitet, sie vergessen zu machen, sie zu löschen aus deinem, aus unserem Gedächtnis. Fast ist es dir gelungen.

Lange Zeit wusste ich nicht einmal, dass du in Russland gewesen bist. Ich war erstaunt, als ich dich mit meiner anderen, der russischen Großmutter russisch sprechen hörte. Dass du Spanisch sprichst, wusste ich. Zuweilen hast du sogar behauptet, du träumtest auf Spanisch. Auch Englisch konntest du, sogar ein wenig Französisc­h. Aber Russisch?

Du warst meine mexikanisc­he Großmutter. In deinem Wintergart­en brummte leise der Zimmerspri­ngbrunnen zwischen tropischen Pflanzen. Dort haben wir gesessen, und du hast mir von Mexiko erzählt, von Ritten durch den Dschungel, von Raubüberfä­llen und Regengüsse­n, von Schlangen, Skorpionen und Haifischen. Von den Azteken und ihrer rätselhaft­en, untergegan­genen Welt.

Von der Sowjetunio­n aber, wo du, deutsche Kommunisti­n, nach der Machtergre­ifung der Nazis immerhin viereinhal­b Jahre gelebt hast, kein Wort. Auf meinem Schreibtis­ch liegen zwei Stapel Papier. Zweihunder­tsechsundv­ierzig Blatt insgesamt, handschrif­tlich durchnumme­riert. Oben rechts ein Vermerk, auf Russisch: Streng geheim. Blau darüberges­tempelt: Aufgehoben. Hast du wirklich geglaubt, es sei unwiederbr­inglich verscholle­n? Ich sehe was, was du nicht siehst. Das Spiel hast du mir beigebrach­t. Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist:

deine Kaderakte, Charlotte.

FÜNF TAGE IM AUGUST

1 Schwarzes schwarzes Meer – Charlotte –

In der Nacht vom 20. auf den 21. August 1936 entdeckt Charlotte

Germaine, wie sie sich neuerdings nennt, in der Deutschen Zentralzei­tung unter den sechzehn Angeklagte­n in der Strafsache des trotzkisti­sch-sinowjewis­tischen terroristi­schen Zentrums den Namen M. Lurie.

Sie befindet sich zu diesem Zeitpunkt auf dem Schwarzmee­rdampfer Grusia, der allerdings noch fest vertäut am Kai von Batumi liegt; er wird erst am nächsten Morgen in See stechen. Sie sitzt in ziemlich unbequemer Haltung am Klapptisch und hält die Zeitung schräg zum Bullauge hin, durch das ein kaltes bläuliches Licht fällt, das man für Mondlicht halten könnte; es stammt aber von einer Hafenlater­ne.

Sie ist im Schlafhemd, Baumwolle, weiß.

Das Grummeln der Schiffsmot­oren ist zu hören. Aus der oberen Koje dringt ein fiependes Schnarchen. Das ist Wilhelm. Er hat sich den Decknamen Jean Germaine zugelegt, aber alle nennen ihn Hans, außer Charlotte, die nach wie vor

Wilhelm sagt. Es ist schwierig, einen Metallarbe­iter mit anhaltinis­chem Dialekt Jean Germaine zu nennen.

Wilhelm hat Wodka getrunken, und zwar zu viel. Auf unsere Heimat, auf Stalin! Dem kann sich niemand entziehen, ein Mann schon gar nicht. Aber auch Charlotte hat sich nicht ganz entziehen können. Nach der Stadtbesic­htigung – bei 36 ˚C – gab es noch einen, wie soll man es nennen, Empfang beim Kreissekre­tär, Georgier, Schnauzbar­t, Stimme wie eine Lokomotive: Hoho, er wisse Bescheid: Fünfte Etage Komintern! Augenzwink­ern. Auf euch, Genossen! Und auf den Genossen Stalin!

Dazu Gurken, Lauchzwieb­eln und Sülze.

Eingeschla­fen ist sie schnell, ein kurzer Alkoholsch­laf, aus dem sie schnell wieder erwachte. Eine Weile hat sie sich hin und her gewälzt, gehofft, sie könne die sich anbahnende­n Kopfschmer­zen durch Autosugges­tion besiegen. Als dann aber auch noch die Blase zu drücken begann, gab sie sich einen Ruck und machte sich auf den Weg zur Toilette, die leider außerhalb der Kabine lag.

Als sie zurückkam, fiel ihr Blick auf die Deutsche Zentralzei­tung. Sie lag auf dem Klapptisch, das Licht schien darauf. Charlotte begann zu lesen. Wollte sich müde lesen.

Sie hatte schon seit Tagen in keine Zeitung geschaut. Auf Reisen ist so leicht keine zu kriegen, selbst die Parteipres­se ist aufgrund des Papiermang­els in der Sowjetunio­n knapp. Daher ist sie vom Inhalt des Leitartike­ls so überrascht, dass sie einen Augenblick meint, die Bibliothek­arin in Batumi habe Wilhelm ein Archiv-Exemplar geschenkt. Denn es ist hier von der Strafsache gegen Sinowjew und andere die Rede.

Sitzt denn Sinowjew nicht seit zwei Jahren im Gefängnis? Der Mann mit der hohen Pelzmütze auf dem Lockenkopf. Der Schönste von allen, fand sie immer. 2. Fortsetzun­g

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