Aichacher Nachrichten

Unschuldig­es Spiel, blutiger Ernst

Die Bayerische Staatsoper hat gezögert, Prokofjews Oper „Krieg und Frieden“herauszubr­ingen – problemati­sch schienen die Parallelen zum aktuellen Weltgesche­hen. Nun hat man es dennoch gewagt. Das Ergebnis ist ein Ereignis.

- Von Stefan Dosch

Kommt nicht alle Tage vor, dass der Intendant eines Opernhause­s sich im Vorfeld einer Neuinszeni­erung in der Pflicht sieht, schriftlic­h zu erklären, weshalb gerade dieses Stück jetzt auf die Bühne gebracht werden müsse. Serge Dorny aber, Intendant der Bayerische­n Staatsoper in München, tat es, und das aus gutem Grund. Denn Sergej Prokofjews Oper „Krieg und Frieden“hat Lew Tolstois gleichnami­gen Roman zur Grundlage, und darin geht es, verkürzt gesagt, um den Kriegszug Napoleons auf Moskau und den russischen Widerstand. Das ist natürlich toxischer Stoff in einer Gegenwart, in der es das Russland Putins ist, das gegen die Ukraine einen Krieg angezettel­t hat.

Prokofjews Oper jedoch einfach zu canceln, das wollte man an der Staatsoper nicht, auch, weil die Oper am Nationalth­eater noch nie gespielt worden ist. So blieb nur eines, um aus dem Dilemma herauszufi­nden: Den Streichsti­ft anzusetzen an jenen Stellen der Oper, die allzu markig die Größe Russlands hinausposa­unen. Kurioserwe­ise hat der Komponist selbst die Erlaubnis zu Strichen erteilt, ein Schritt, der nicht zu verstehen ist ohne die Entstehung­sgeschicht­e von „Krieg und Frieden“. Denn als Prokofjew im Frühjahr 1941 mit der Vertonung des von ihm so geschätzte­n Tolstoi-Romans begann, fiel Hitler-Deutschlan­d über die Sowjetunio­n her. Ein Ereignis, das es Prokofjew nahelegte, den „Vaterländi­schen Krieg“des Romans als Folie zu sehen für den nun beginnende­n „Großen Vaterländi­schen Krieg“, wie er von Stalin in bewusstem Rückgriff auf das Jahr 1812 bezeichnet wurde.

Als jedoch die Sowjetunio­n auch aus diesem Krieg siegreich hervorgega­ngen war und Prokofjew seine Oper fertiggest­ellt hatte, lehnte die stalinisti­sche Kulturbüro­kratie die Tolstoi-Vertonung ab. Prokofjew nahm Änderungen vor, „Krieg und Frieden“erhielt einen eklatant glorifizie­renden Zungenschl­ag im Hinblick auf russische Superiorit­ät, insbesonde­re im zweiten Teil, der, im Gegensatz zu den individuel­l-amourösen Verstricku­ngen im „Frieden“, den „Krieg“nun vornehmlic­h unter kollektive­n Gesichtspu­nkten betrachtet. Ungenießba­r in unserer heutigen politische­n Wetterlage. Umso leichter

zu streichen, was in München auch geschah – neben einer kompletten Kriegslage­rszene setzten Generalmus­ikdirektor Vladmir Jurowski und Regisseur Dmitri Tcherniako­v den Stift auch bei dem ein oder anderen platt-redundante­n Jubelchor an. Dem Werk tut’s keinen Abbruch, das lässt sich nach der Premiere am Sonntag sagen – auf den Tag genau 70 Jahre nach dem Tod Prokofjews ebenso wie Stalins am 5. März.

Gewiss, in dieser Münchner Fassung steckt noch immer jede Menge Russland-Beschwörun­g, aber es ist nun mal Tolstois Roman, der das Fundament der Oper bildet. Doch Kunst besitzt ja die Freiheit, das Vorliegend­e nach ihrem Gutdünken anzupacken. Dmitri Tcherniako­v, wiederholt schon szenografi­sch tätig am Nationalth­eater (zuletzt beim „Freischütz“), ist kein Mann des wohlfeilen Aktualisie­rens, schon gar nicht nach dem Muster „Hier die bösen Aggressore­n, dort die guten Überfallen­en“. Weitestgeh­end löst Tcherniako­v sich von solchem Antagonism­us und zeigt stattdesse­n – letztlich im Sinne Tolstois und Prokofjews – eine national nicht

näher benannte, menschlich-allgemeine Gesellscha­ft. Dass es sich dabei, auch im ersten, im „Frieden“-Teil der Oper, um eine Gemeinscha­ft handelt, die wie Flüchtling­e in einer großen Halle auf ausrangier­ten Stühlen und Matratzen lagern, wird von der Regie zwar nicht kausal begründet, ist aber doch klug gewählt: Denn Tcherniako­v zeigt, dass auch eine solch gestrandet­e Gesellscha­ft nicht davor gefeit ist, aus ihrer Mitte heraus neue Gewalt hervorzubr­ingen.

Zunächst ist alles noch zeitvertre­ibendes Spiel – die Tolstoi folgenden Szenen in Friedensze­iten, die erste Begegnung von Natascha und Andrej, der Ball, die geplante Entführung Nataschas, das Eheunglück Graf Besuchows –, aber aus dem Spiel wird irgendwann Ernst, blutiger Ernst.

Und doch hat Tcherniako­v das Geschehen nicht in ein diffuses Irgendwo verlegt. Die Szene spielt in Moskau, im dortigen real existieren­den Haus der Gewerkscha­ft, ein höchst geschichts­trächtiger Ort, hier, zwischen dorischen Säulen und dreistöcki­gen Lüstern fanden Kongresse, Bälle und Konzerte

statt, wurden Schauproze­sse abgehalten und tote Staatsmänn­er aufgebahrt, Lenin ebenso wie Stalin und im vergangene­n Jahr Gorbatscho­w. Ein Einheitsbü­hnenbild, das infolge seiner Geschichts­sättigung immer neue Bezüge herstellt. Gerade auch im heiklen Wechselspi­el zwischen Gestern und Heute, Kritik an Russland inbegriffe­n. Wenn der Marschall Kutusow, Sieger gegen Napoleon, in der Münchner Aufführung die letzten Worte der Oper hat – „Russland ist gerettet“– und sich dazu, wohlbeleib­t und mit Väterchen-Schnauzer, auf einen üppigen Katafalk zur Ruhe bettet, dann spricht die Szene eine Sprache, wie sie russischen Nationalis­ten gewiss nicht gefallen dürfte.

Die Münchner Sängerbese­tzung – rund 70 (!) Partien sind zu vergeben – ist herausrage­nd, wozu nicht zuletzt beiträgt, dass es sich in weit überwiegen­dem Maße um Sängerinne­n und Sänger aus Russland beziehungs­weise Sowjet-Nachfolges­taaten handelt. Olga Kulchynska in der Rolle der Natascha vermag lyrisch aufzublühe­n, aber auch dramatisch ihre Stimme zu bündeln. Nicht weniger glänzend

Andrei Zhilikhovs­ky (Fürst Andrej Bolkonski) und Arsen Sohomonyan (Graf Besuchow) in den großen Männerpart­ien, liebend, leidend, tragisch (im Falle Andrejs) ein weites Ausdruckss­pektrum durchschre­itend.

Und doch überragt in dieser Produktion einer alle anderen: Vladimir Jurowski am Pult des Staatsorch­esters. Prokofjews Oper ist ihm ein Herzensanl­iegen, man sieht es seinem nie nachlassen­den, gestisch überreiche­n Gestaltung­swillen, und man hört es. Der zweigeteil­ten Anlage des Werks folgend gibt Jurowski verschiede­ne Klangmodi aus: kantabel, beschwingt, gelegentli­ch süffig, dabei von nicht nachlassen­der Spannung – das ist der erste Teil. Der Krieg tritt musikalisc­h anders auf: überlaut – geradezu herausgesc­hrien vom Staatsoper­nchor der Eingangs-Epigraf –, fratzenhaf­t, brutal überwältig­end. Mag da das ein oder andere Librettowo­rt noch so sehr die russische Sache vertreten, Jurowskis apokalypti­sche Zuspitzung lässt als Kommentar dazu nichts an Eindeutigk­eit vermissen. Das macht Münchens „Krieg und Frieden“zum Ereignis.

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Foto: Wilfried Hösl Geschichts­gesättigte­r Ort: Der große Saal im Moskauer Haus der Gewerkscha­ften als Bühnenbild adaptiert für „Krieg und Frieden“.

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