Daniela Krien: Die Liebe im Ernstfall (5)
Roman von Daniela Krien
Fünf Frauen, aufgewachsen in der DDR, doch die Mauer ist gefallen, alles, was bisher nur ersehnt war, ist nun möglich, und eine jede der fünf geht daran, aus dem Vollen zu schöpfen – mit ungleichen Ergebnissen, gerade auch, was die Liebe betrifft. Daniela Krien erzählt von modernen Lebenslinien, die sich schicksalhaft überkreuzen.
© 2019 Diogenes Verlag AG Zürich
Sie fuhren die Radwanderwege an Saale und Mulde entlang, besuchten Ausstellungen, gingen ins Kino und stritten über die Auswahl des Films. Ludger bevorzugte Dokumentarfilme, Paula Künstlerbiographien. Ludger bemängelte daran, dass Paula in Wahrheit keinen Tag im Leben eines Georg Trakl ertragen hätte, keine Woche im Leben der Camille Claudel. Sie warf ihm vor, alles zu ernst zu nehmen, ohne Humor zu sein, ohne Leichtigkeit, und er konterte, dass eben diese Leichtigkeit, diese Sorglosigkeit die Welt zugrunde richte.
Sie stritten über Dinge, von denen sie nicht geglaubt hatten, dass man über sie streiten konnte. Beim Radfahren fuhr er schneller als sie. Er schaute sich nicht nach ihr um. Er raste mit seinem Fahrrad über Ampeln, die auf Rot umschalteten, und fuhr auf der anderen Seite weiter, während Paula auf die nächste Grünphase wartete. Auch die Strecke legte er fest. Von jedem beliebigen Punkt in der Stadt zu jedem beliebigen Ziel kannte er die beste Route. Paulas Widerspruch brach spätestens beim Blick auf die Karte, die er stets bei sich trug.
Manchmal ließ sie sich absichtlich zurückfallen und fuhr einen eigenen Weg. Sie wusste, wie sehr es ihn ärgerte, und sie wusste, dass die Versöhnung manchmal im Bett stattfand.
Wenn Ludger wütend war, hielt er seine körperliche Kraft nicht zurück. Der Sex war freier als sonst. Und jene Nächte waren es, die Paula Hoffnung machten. In anderen Nächten lag sie wach, wand sich aus seiner Umarmung und wusste nicht, wohin mit ihrer Lust.
*
Der Auszug aus dem Loft war die erste Entscheidung, die Paula durchsetzte.
Vernünftig war es nicht. Die Mietpreise stiegen, und Ludger steckte in einer Krise.
Trotz des Erfolgs hatte es keine weiteren Temperierungsaufträge gegeben. Sein Ziel war ihm so nah erschienen. Bald schon hätte Brinkmann & Krohn dafür bekannt sein können, das beste Architekturbüro auf dem Gebiet des ökologischen Bauens zu sein. Er hatte andere, lukrative Aufträge abgelehnt und mit den BrinkmannBrüdern gestritten.
Zu diesem Zeitpunkt war das Kind in ihrem Bauch etwa acht Zentimeter groß. Es konnte den Daumen in den Mund stecken, die Nabelschnur zwischen den Fingern halten, und es bewegte sich lebhaft. Das Ultraschallbild lag zwischen ihnen auf dem Tisch. Paula weinte. Sie hatte geredet und gefleht. Wände und Zimmer!, hatte Ludger wiederholt und den Kopf dabei geschüttelt. Das Bett sei groß genug für drei und das Loft ideal für ein kleines Kind. Spiele aller Art seien möglich. Fahrradfahren, Trampolinspringen, Schaukeln – was wolle sie mehr?
Als Paula vom Tisch aufstand, wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht, nahm das Ultraschallbild und steckte es in ihre Tasche.
In den folgenden Monaten fuhr sie mit ihrer Gazelle kreuz und quer durch die Stadt. Sie telefonierte mit Maklern und privaten Vermietern, besichtigte etliche Wohnungen und traf eine Vorauswahl, die sie Ludger am Abend vorlegte.
Es stellte sich dann heraus, dass die Wohnungen in Stadtteilen lagen, die für Ludger nicht in Frage kamen, in baumlosen und deswegen inakzeptablen Straßen, in Sanierungszuständen,
mit denen er nicht leben konnte, mit Nachbarn, die ihm schon vom Hörensagen unsympathisch waren. Er lehnte es ab, Tür an Tür mit Anwälten, Steuerberatern oder Immobilienmaklern zu leben. Er hasste ihre SUVs, aus denen sie von oben auf die anderen herabsahen, die Vorfahrtsregeln außer Kraft setzten und in zweiter Reihe parkten. Ihm graute vor ihren Statussymbolen, ihren Baumfällanträgen zugunsten neuer Parkplätze, ihrem mangelnden Bewusstsein für das richtige Leben.
Als sie eines Tages auf dem Balkon einer halbsanierten Vierraumwohnung standen, über den südlichen Auwald blickten und Ludger endlich zustimmte, empfand Paula keine Freude. Der modrig-feuchte Geruch des Bärlauchs rief Übelkeit bei ihr hervor. Sie lehnte sich gegen die Brüstung des Balkons und schloss die Augen.
Die Wohnung lag in einem Hinterhaus. Es gab keinen Autolärm, kein Straßenbahnrattern, nur die grünen Kronen der Bäume und die Stimmen der Vögel. Bis in die innere Stadt waren es zehn Minuten mit dem Rad, beide Arbeitsstellen waren ebenso schnell zu erreichen. Das Treppenhaus stand voller Fahrräder, und egal, aus welchem Fenster man blickte, Autos waren keine zu sehen. Es war perfekt.
Am Tag des Umzugs konnte Paula nur zusehen und die Helfer anweisen. Es blieben ihr vier Wochen bis zum Geburtstermin. Ihre Beine schmerzten, und die Schuhe drückten auf die geschwollenen Füße. Sie hatte Sodbrennen und war unsagbar müde. Am liebsten hätte sie sich wie eine Schnecke in den Schutz ihres Gehäuses zurückgezogen.
Am Ende jenes Tages jedoch, inmitten des Durcheinanders von Kisten, Koffern und Möbelteilen, stand nur das Bett an seinem Platz. Und als sie endlich lag, dachte Paula an die Nächte, die sie schlaflos darin verbracht hatte, und an das noch namenlose Kind in ihrem Bauch.