Nachdenken in Rosenheim
Mit einem ungewöhnlichen Urteil nimmt ein Richter junge Hausbesetzer in die Pflicht.
Die Methode der Reflexion ist aus der Mode gekommen. Ohne Unterlass jagen neue Ereignisse um die nächste Ecke oder sausen durchs Dorf. Hinsetzen, überlegen, abwägen, sind das Gegenteil der Kulturtechnik unserer Zeit, das nachdenkfreie Wischen über den Bildschirm unserer Mobiltelefone.
Doch es gibt sie noch, diese Orte der Entschleunigung und des Innehaltens. Das Amtsgericht Rosenheim hat drei junge Hausbesetzer jetzt zum Verfassen von Aufsätzen verurteilt. Zwei müssen über Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und Eigentumsgarantie nachsinnen, fünf Seiten sind abzuliefern. Der Dritte muss die Vorschläge der Parteien zum sozialen Wohnungsbau erörtern. Im August will der Richter mit den zum Nachdenken Verdonnerten über ihre Erkenntnisse diskutieren.
Ein halbes Jahr hat er ihnen also für das Reflektieren eingeräumt. Im Verhältnis zur gefühlten Zeittaktung der Gegenwart ist das eine biblische Spanne. Das wiederum kann kein Zufall sein, hat doch der über Rosenheim gebietende Landesvater verordnet, dass das Christentum zu Bayern gehört wie Bier und Schweinsbraten. Der Freistaat ist aber auch das Land der Kultur, der Natur, des Urlaubs, des Genusses, der Wirtschaftskraft, der Bildung, des Sports – und nun auch das Land der ausgiebigen Reflektion. Dass ausgerechnet ein Gericht in Rosenheim die Keimzelle Letzterer ist, darauf wäre nicht einmal Franz Kafka gekommen, dessen Name zum Synonym für alles Groteske geworden ist. In München trug er einst eine seiner Geschichten vor Publikum vor. Es wurde ein „grandioser Misserfolg“, was auch für ein Treffen mit seiner Verlobten Alice Bauer galt. In Rosenheim wäre ihm das nicht passiert.