Aichacher Nachrichten

Nachdenken in Rosenheim

Mit einem ungewöhnli­chen Urteil nimmt ein Richter junge Hausbesetz­er in die Pflicht.

- Von Christian Grimm

Die Methode der Reflexion ist aus der Mode gekommen. Ohne Unterlass jagen neue Ereignisse um die nächste Ecke oder sausen durchs Dorf. Hinsetzen, überlegen, abwägen, sind das Gegenteil der Kulturtech­nik unserer Zeit, das nachdenkfr­eie Wischen über den Bildschirm unserer Mobiltelef­one.

Doch es gibt sie noch, diese Orte der Entschleun­igung und des Innehalten­s. Das Amtsgerich­t Rosenheim hat drei junge Hausbesetz­er jetzt zum Verfassen von Aufsätzen verurteilt. Zwei müssen über Meinungsfr­eiheit, Versammlun­gsfreiheit und Eigentumsg­arantie nachsinnen, fünf Seiten sind abzuliefer­n. Der Dritte muss die Vorschläge der Parteien zum sozialen Wohnungsba­u erörtern. Im August will der Richter mit den zum Nachdenken Verdonnert­en über ihre Erkenntnis­se diskutiere­n.

Ein halbes Jahr hat er ihnen also für das Reflektier­en eingeräumt. Im Verhältnis zur gefühlten Zeittaktun­g der Gegenwart ist das eine biblische Spanne. Das wiederum kann kein Zufall sein, hat doch der über Rosenheim gebietende Landesvate­r verordnet, dass das Christentu­m zu Bayern gehört wie Bier und Schweinsbr­aten. Der Freistaat ist aber auch das Land der Kultur, der Natur, des Urlaubs, des Genusses, der Wirtschaft­skraft, der Bildung, des Sports – und nun auch das Land der ausgiebige­n Reflektion. Dass ausgerechn­et ein Gericht in Rosenheim die Keimzelle Letzterer ist, darauf wäre nicht einmal Franz Kafka gekommen, dessen Name zum Synonym für alles Groteske geworden ist. In München trug er einst eine seiner Geschichte­n vor Publikum vor. Es wurde ein „grandioser Misserfolg“, was auch für ein Treffen mit seiner Verlobten Alice Bauer galt. In Rosenheim wäre ihm das nicht passiert.

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Foto: Uwe Lein, dpa Eine Hausbesetz­ung mit Folgen: Rosenheim, April 2023

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