Annamarie Peters’ letzte große Reise
Ihr Lebensweg führte Annamarie Peters von Pommern über Aichach nach Australien. Vor eineinhalb Jahren starb sie – und kehrte über ein Filmset nach Aichach zurück.
Ganz bestimmt hätte es der Oma gefallen, Teil einer Filmcrew zu sein. Da ist sich Sabine Peters sicher. „Sie war schon eitel, die Oma“; Peters schaut aus dem wandhohen Fenster in den Garten und lacht. Von Kindesbeinen in Pommern an habe sich ihre Großmutter Annamarie Peters schon fein gekleidet. Das habe sie sich bis ins hohe Alter und auch noch im Seniorenheim im australischen Melbourne beibehalten. Dennoch: Teil eines Films zu sein, dazu noch bei einem Oscar-Gewinner? Das war so etwas wie der krönende Abschluss des Lebens einer „Grand Dame“– wie ihre Enkelin Sabine sie nennt –, das sie von Pommern über Aichach nach Australien führte. Und bedeutete vielleicht ein Stück weit auch die Wiederherstellung ihrer Würde.
Am 16. August 2022 starb Annamarie Peters im Alter von 102 Jahren in Melbourne, Australien. 102 Jahre voller Wechsel und Wandel, voller Abschiede und Neuanfänge. Wenn Sabine Peters über ihre Großmutter Annamarie spricht, schwingt der Unterton warm und sanft mit, etwa als sie sagt: „Langweilig war’s der Oma nie.“Am 13. Januar 1920 in Pommern geboren, wuchs „die Oma“in der Nähe von Stettin auf, im damaligen Ferdinandstein, das heute Daleszewo heißt. Die Oma liebte es dort, erinnerte sich später an ihre Jugend als schönste Zeit ihres Lebens.
Und das, obwohl sie als Kind beim Spielen einseitig das Augenlicht verlor, „ein anderes Kind hat sie mit einem Pfeil getroffen“. Dafür bekam die kleine Annamarie aber ein wenig Geld, wovon sie sich ihre feine Kleidung leisten konnte. Dass sie so eitel sei, habe die Oma auch selbst immer gesagt, erinnert sich Sabine Peters und schaut wieder aus dem Fenster: „Da hat sie sich auch selbst amüsiert, da konnte sie drüber kichern.“
Es sind kleine Dinge, die Sabine Peters und auch ihrer Mutter Antonie zu Annamarie – oder „die Mama“, wie Antonie ihre Schwiegermutter nennt – einfallen: Sie habe herrlich Plattdeutsch gesprochen, das sei bei Telefonaten mit ihrer Familie immer wieder herausgebrochen. Wie gern sie doch Karten gespielt habe, mit gut über 90 sei sie noch jede Woche zum Skatspielen gegangen. Oder wie sie – eine geborene Radke – sich mit einer australischen Farmer-Familie anfreundete und der felsenfesten
Überzeugung war, irgendwie miteinander verwandt zu sein. Deren Name: ebenfalls Radke, das war es aber auch schon mit den Gemeinsamkeiten.
Anfang der 80er-Jahre wanderte Annamarie mit ihrem Mann Wilhelm nach Melbourne aus, sie hatten sich ein Haus im Ortsteil Kew gekauft. Wilhelm Peters war rheumakrank, die beiden hatten deshalb schon einige Winter bei ihrer dort lebenden Tochter Gerlinde verbracht. 1995 besuchten sie letztmals gemeinsam Aichach, um ihren verstorbenen Sohn Klaus – Antonies Ehemann – zu Grabe zu tragen. 1998 verstarb auch Wilhelm, Annamarie weilte letztmals 2002 in ihrer alten Heimat und kehrte erst nach ihrem Tod in einer Urne wieder zurück. Und wie.
Vor Kurzem erschien auf der Streaming-Plattform Prime Video des US-amerikanischen Unternehmens Amazon ein auf den ersten Blick unscheinbarer Film: „Ricky Stanicky“, eine Komödie mit dem ehemaligen „High School Musical“-Teenieschwarm Zac Efron und Ex-Wrestler John Cena. Regie führte
Peter Farrelly, der für seinen Film „Green Book“2019 drei Oscars gewann, einen davon als bester Film.
Bei seinem neuen Film ebenfalls mit von der Partie: Annamarie Peters und ihre Urenkelin Yosephina. Yosephina ist die Tochter von Michaela Peters, die die Schwester von Sabine Peters und in die USA ausgewandert ist. Yosephina besuchte dort eine
Highschool mit Apple Farrelly, Tochter des „Ricky Stanicky“-Regisseurs. Und wie es der Zufall wollte, hatte Farrelly für seinen neuen Film einen ganz besonderen Drehort ausgesucht: Melbourne, Australien.
Die Peters-Familie schmiedete einen Masterplan: Yosephina ergatterte über Apple Farrelly einen Platz in der Filmcrew, nahm von Gerlinde Peters die Urne der Urgroßmutter entgegen – und integrierte sie für den Verlauf der Dreharbeiten als
Gästin im Hotel der Crew. Im Film ist die Urne zwar nicht zu sehen, aber: „Die Oma wurde dann morgens von der Crew immer mit einem Küsschen und einem ‘Hi, Granny!’ begrüßt“, sagt Sabine Peters. Sie und ihre Mutter Antonie sind sich sicher, dass das für Oma Annamarie ein Stück weit ihre Würde und ihren Stolz wiederhergestellt hätte, die sie so lange hinten anstellen und herunterschlucken musste.
Dass Annamarie Peters nämlich überhaupt nach Aichach kam, war keineswegs ein vorgezeichneter Weg, geschweige denn ein Aufschwung. Die pommersche Heimat musste Annamarie Peters 1945 verlassen, der Krieg zwang sie, ihre zwei Kinder und weitere Familienmitglieder zur Flucht. Erst nach SchleswigHolstein, dann ins heutige Hilgertshausen-Tandern im Kreis Dachau, ab 1952 war Aichach dann die neue Heimat. Es war die Zeit, die die junge Frau desillusionierte, Flucht und Verlust hinterließen ihre Narben: „Ein einziges Mal hat die Oma von der Flucht erzählt“, erinnert sich Enkelin Sabine Peters. Ein einziges Mal erzählte sie von den toten Säuglingen im Straßengraben, von den vergewaltigten Töchtern, die ihre Väter baten, sie zu erschießen. Und auch der Alltag in Aichach war trist: Die Familie bezog ein selbst gebautes Haus an der Paar, „ganz klein“, erinnert sich Antonie, ohne Keller, Überschwemmungen führten zu Rissen in den Wänden.
Direkt daneben: eine kleine Weberei. Annamaries Mann Wilhelm war Handwebmeister in Augsburg, in Aichach baute sich das Ehepaar einen Nebenerwerb auf, um über die Runden zu kommen. Aus zerschnittenen Kleidern von Landfrauen webten sie Teppiche, für das Volkstrachtengeschäft Wallach in München Stoffe; die auf einem Auge erblindete Annamarie legte dem farbenblinden Wilhelm dafür die Webnadeln mit den richtigen Farben zurecht, versäuberte die Stoffe und hatte die Arbeit „dick“: „Oma hat sich immer beklagt: ‘Ich bin eine Lumpenweberin’“, erzählt Sabine Peters.
Davon kommt heute noch der Name von Sabine Peters’ Weberei in Aichach: „’Ragweaver’ bedeutet Lumpenweber.“Das Geschäft übernahm sie von ihrer Mutter Antonie, die wiederum einst von „der Mama“, baute 1995 aber eine neue Weberei auf dem Areal des alten, ganz kleinen Wohnhauses. 2010 folgte noch ein Wohnanbau, in dem Antonie heute lebt. Dorthin kehrte sie schließlich über den Umweg Hollywood zurück: Nachdem Urenkelin Yosephina Peters mit ihrer Arbeit am Filmset fertig war, verabschiedete sie sich mit der Urne im Handgepäck zurück nach San Francisco, wo sie sie ihrer Mutter Michaela übergab. Die wiederum brachte die Urne von dort zurück nach Aichach: „Das war nur deshalb problemlos möglich, weil es ein Sonntag war und die Bestatter geschlossen hatten“, sagt Sabine Peters. In Deutschland gilt die Bestattungspflicht, bis dahin müssen Urnen beim Bestatter verweilen.
Im März 2023 fand Annamarie Peters schließlich – und endlich – in ihrer alten Heimat ihre letzte Ruhe, die lange Reise hatte ein Ende: Auf dem alten Friedhof in Aichach ist sie in ihrer Urne unter anderem mit Ehemann Wilhelm und Sohn Klaus wiedervereinigt. Seit einigen Tagen erst ist Annamarie Peters auch auf einer neuen Grabplatte verewigt. Die Erinnerung an sie lebt natürlich weiter – ein Stück weit auch in Form eines Hollywood-Streifens.
In einer Urne war sie Teil der Filmcrew von „Ricky Stanicky“.