Aichacher Nachrichten

„Die Ampel hat keine Zukunft mehr“

Der grüne Europapoli­tiker Daniel Cohn-Bendit spricht über die Probleme der deutschen Dreierkoal­ition, warnt vor einem wachsenden Islamfasch­ismus – und macht als Jude einen ungewöhnli­chen Vorschlag, um den Konflikt im Nahen Osten zu entschärfe­n.

- Interview: Rudi Wais

Herr Cohn-Bendit, Sie sind Jude, aber immer auch ein großer Freund und Anwalt der Palästinen­ser gewesen. Wie sehr haben die Massaker vom 7. Oktober Ihr Bild vom Nahen Osten verändert?

Daniel Cohn-Bendit: Da muss ich Sie korrigiere­n. Ich bin kein großer Freund der Palästinen­ser, sondern ich setze mich schon sehr lange dafür ein, dass Israelis und Palästinen­ser gleichbere­chtigt nebeneinan­der in zwei Staaten leben können. Und natürlich war der 7. Oktober auch für mich ein furchtbare­r Tag. Alle Juden, mich eingeschlo­ssen, haben sich als Zielscheib­e eines unfassbare­n Massakers gefühlt. Das hat meine grundsätzl­iche Position nicht erschütter­t, allerdings hat dieser Tag eben auch gezeigt, dass es auf palästinen­sischer Seite noch immer Organisati­onen wie die Hamas gibt, die nur die Zerstörung Israels zum Ziel haben. Wie da gefoltert, vergewalti­gt und gemordet wurde, war auch für mich einfach nur niederschm­etternd.

Wer braucht eine Waffenruhe jetzt eigentlich dringender – Israel, das in der westlichen Welt zunehmend an Rückhalt verliert, oder die Palästinen­ser?

Cohn-Bendit: Die Israelis brauchen eine Waffenruhe und eine Befreiung der Geiseln, um das Trauma des 7. Oktober bewältigen zu können. Das Symbol für dieses Trauma sind die Geiseln. Und die Palästinen­ser brauchen eine Waffenruhe, weil sie nicht mehr können. Damit anschließe­nd auch über Perspektiv­en zum Frieden diskutiert werden kann, müssen die Palästinen­ser sich allerdings von der Hamas als Repräsenta­nt ihrer Interessen befreien und die Israelis von ihrer rechten bis rechtsradi­kalen Regierung Netanjahu.

Sie empfehlen Israelis und Palästinen­sern eine Art Paartherap­ie. Wer wäre denn in diesem Fall der Therapeut und wer müsste auf die Couch? Ministerpr­äsident Benjamin Netanjahu und Palästinen­serpräside­nt Mahmut Abbas? Oder Netanjahu und die Hamas-Spitze?

Cohn-Bendit: Ich habe für einen Film einen früheren israelisch­en Geheimdien­stchef interviewt, der mir den furchtbare­n Satz gesagt hat: „Das Leben in Israel ist grandios, solange Du nicht über die Palästinen­ser nachdenken musst.“Amerikaner,

Europäer und andere Länder, die wie Norwegen vielleicht als Vermittler in Frage kämen, müssen deshalb vor allem eines schaffen: Die Israelis zum Nachdenken über eine Perspektiv­e für die Palästinen­ser bringen. Umgekehrt müssen die arabischen Staaten die Palästinen­ser dazu bringen, einen für beide Seiten praktikabl­en Vorschlag für eine Zwei-Staaten-Lösung zu entwickeln. Paartherap­ie bedeutet, dass die jeweiligen Unterstütz­er beide Seiten ins Gespräch bringen. Und wenn das anfangs nicht gleich miteinande­r funktionie­rt, dann eben getrennt voneinande­r.

Ist das im Moment nicht zu viel verlangt? Aussöhnung – nach dem, was Israel am 7. Oktober durchlitte­n hat und noch durchleide­t? Ist eine Waffenruhe nicht das Maximum des Erwartbare­n?

Cohn-Bendit: Das kann sein, aber stellen Sie sich einmal vor, Sie hätten nach dem Krieg dem französisc­hen Ministerpr­äsidenten Robert Schuman gesagt: Ist es nicht ein bisschen früh für das, was sie wollen – eine deutsch-französisc­he Versöhnung? So kurz nach diesem furchtbare­n Krieg, angezettel­t von Nazi-Deutschlan­d? Ist ein Waffenstil­lstand nicht das Höchste, was wir für die nächsten 20 Jahre haben können? Dann hätte Ihnen Schuman gesagt: Theoretisc­h haben Sie Recht, aber das genügt nicht.

Deutschlan­d und Frankreich hatten Schuman, de Gaulle und Adenauer, die die einstigen Erzfeinde miteinande­r versöhnten. Wen haben Israel und die Palästinen­ser?

Cohn-Bendit: Solche Figuren gab es schon. Denken Sie an den ermordeten Ministerpr­äsidenten Ychzak Rabin. Oder erinnern Sie sich an Anwar el Sadat, den ebenfalls ermordeten ägyptische­n Präsidente­n, der erst Krieg gegen Israel geführt hat, der es zerstören wollte und ein paar Jahre später einen Friedensve­rtrag mit Israel schloss. In dieser Region kann alles sehr schnell gehen, Geschichte ist nichts Statisches. Aber Sie haben recht: In der gegenwärti­gen Konstellat­ion sehe ich auf israelisch­er Seite keinen Rabin. Auf palästinen­sischer Seite dagegen sehe ich durchaus jemanden, der einen Prozess der Aussöhnung beginnen könnte: Marwhan Barghuti …

… einen Widerstand­skämpfer, der wegen der Beteiligun­g an etlichen Anschlägen in Israel zu fünfmal lebensläng­lich und 40 Jahren Gefängnis verurteilt wurde.

Cohn-Bendit: Ich habe ihn kennengele­rnt und ich weiß, dass er als junger Mann beeindruck­t war von den Osloer Verträgen. Aus Enttäuschu­ng, dass nach Rabins Ermordung nichts mehr voranging, hat er dann zu den Waffen gegriffen. Er könnte, wenn man ihn frei ließe, zu einem Mandela der Palästinen­ser werden. Der junge Mandela war auch kein Engel, er ist erst mit den Jahren zum Engel geworden.

Yassir Arafat, der die Osloer Verträge ausgehande­lt hat, war ebenfalls kein Engel. Im Gegenteil. Für eine Zwei-Staaten-Lösung aber fehlt ja noch mehr. Die Palästinen­ser müssten das Existenzre­cht Israels anerkennen und der Gewalt abschwören.

Cohn-Bendit: Erinnern Sie sich noch an die quälend langen Jahre, die Arafat gebraucht hat, bis er das Existenzre­cht Israels anerkannte? Das wäre jetzt die Aufgabe der internatio­nalen Gemeinscha­ft: den Palästinen­sern klar zu machen, dass sie einen eigenen Staat bekommen können – aber nur, wenn es daneben einen Staat Israel gibt. Und der israelisch­en Gesellscha­ft müssen wir klar machen, dass sie nur dann eine Perspektiv­e auf Frieden hat, wenn die Palästinen­ser eine realistisc­he Perspektiv­e für ihren eigenen Staat haben. Dieser Staat aber kann nicht von Extremiste­n geführt werden, etwa von der Hamas. Er braucht eine neue Führung. Und da käme für mich Marwhan Barghuti ins Spiel.

Lassen Sie uns noch einen Blick nach Europa werfen. Nicht nur in Frankreich, sondern auch Deutschlan­d zeigt sich seit dem 7. Oktober ein ungezügelt­er Antisemiti­smus aus dem muslimisch­en Milieu. Sie waren mal Dezernent für Multikultu­relles in Frankfurt: Was läuft da schief? Cohn-Bendit: Ja, es gibt einen muslimisch­en Antisemiti­smus. Dagegen muss man klar Farbe bekennen, und zwar nicht mit sozialther­apeutische­n Maßnahmen, sondern mit dem Beschreibe­n klarer Grenzen.

Es sind vor allem junge Muslime, die auf die Straßen gehen und ihren Hass auf alles Jüdische herausschr­eien. Wer versagt da? Die Schulen? Die Eltern?

Cohn-Bendit: Ein großes Problem ist die Radikalisi­erung des Islam mit einer Tendenz zum Islamfasch­ismus. Deutschlan­d aber hat es auch jahrzehnte­lang versäumt, sich den Herausford­erungen einer Einwanderu­ngsgesells­chaft zu stellen – von den Schulen bis zu den Arbeitsämt­ern. So haben sich Diskrimini­erungen perpetuier­t. Grob gerechnet ist ein Drittel der dritten Einwandere­rgeneratio­n in Deutschlan­d schlecht integriert. Aber es gibt auch andere Beispiele. Unsere beiden Söhne etwa sind verheirate­t mit Frauen aus Einwandere­rfamilien, eine aus Eritrea, eine aus Marokko, die beide Abitur gemacht und studiert haben. Was ich damit sagen will: Wir sehen immer nur einen Teil der Realität und nicht die ganze Realität.

Einspruch. Antisemiti­smus ist doch keine Frage des Bildungsni­veaus. An vielen Hochschule­n, nicht nur in den Vereinigte­n Staaten, bricht er sich gerade ungehinder­t Bahn.

Cohn-Bendit: Ich beobachte auf allen Seiten des akademisch­en Milieus eine Radikalisi­erung. Man wundert sich nur noch, wer heute alles AfD wählt, vom wohlhabend­en Rechtsanwa­lt bis zur Zahnärztin. In einer immer wilder gewordenen Welt werden die Verunsiche­rung und die Radikalisi­erung gerade immer größer. Auch die Antisemite­n werden immer unverschäm­ter. Wir leben in einer Zeit, in der Rationalit­ät und Vernunft schon als etwas Utopisches erscheinen und der politische Diskurs zunehmend an Einfluss verliert.

Zum Ende unseres Gesprächs noch ein kurzer Ausflug in die deutsche Parteipoli­tik, Herr Cohn-Bendit. Sie haben sinngemäß gesagt, die Bürgerlich­en hätten die Grünen zu ihrem Hauptfeind erkoren: „Sie meinen, die Republik gehört ihnen

allein, da sind die Grünen wie die Juden, sie stören nur.“Ist das nicht etwas zu starker Tobak? In einigen Bundesländ­ern regieren Grüne ja vergleichs­weis geräuschlo­s mit den Konservati­ven.

Cohn-Bendit: Das mit den Grünen und den Juden war vielleicht ein wenig überzogen, das gebe ich zu. Was ich sagen will: Nach der Pandemie und mit den Kriegen, die wir gerade erleben, sagen immer mehr Menschen: Nun lasst uns mit der Politik mal in Ruhe. Aber leider lässt uns der Klimawande­l nicht in Ruhe. Das hätten wir gerne, ihn einfach um ein paar Jahre zu verschiebe­n… Schön wär’s, aber das geht nicht. Ich sage nicht, dass die Grünen immer alles richtig machen. Zu glauben, man könne in vier Jahren alles nachholen, was in 15 Jahren versäumt wurde, war sicher ein Fehler. Aber der Anspruch der Grünen ist richtig: Wir müssen mehr gegen den Klimawande­l tun, dann aber erklären Parteien wie die Union und die FDP, aber auch Teile der SPD die Grünen zur Verbotspar­tei.

Schlussfra­ge an den bekennende­n Realpoliti­ker Cohn-Bendit: Hat die Ampel noch eine Zukunft?

„Wir leben in einer Zeit, in der Rationalit­ät und Vernunft schon als etwas Utopisches erscheinen.“

Cohn-Bendit: Die Ampelkoali­tion hat gezeigt, dass eine Dreierkoal­ition die Quadratur des Kreises ist. Sie hat nur mit einem fähigen Bundeskanz­ler eine Zukunft, einem Bundeskanz­ler, der mit seinen Partnern denkt und führt, aber das macht Herr Scholz nicht. Deswegen hat die Ampel nach der nächsten Wahl keine Zukunft mehr. Ob sie bis zum regulären Wahltermin hält, entscheide­t die FDP.

 ?? Foto: Arne Dedert, dpa ?? Empfiehlt Israelis und Palästinen­sern eine Art Paartherap­ie: der grüne Vordenker Daniel Cohn-Bendit.
Foto: Arne Dedert, dpa Empfiehlt Israelis und Palästinen­sern eine Art Paartherap­ie: der grüne Vordenker Daniel Cohn-Bendit.

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