“ICH ZERSCHNEIDE PAPIER, UM GEFÜHLE ZU BESCHREIBEN“
Er hat berühmte Personen wie David Bowie, Lady Gaga, Obama oder Spike Lee abgebildet: Marco Gallotta ist ein Künstler, der Kunstwerke gestaltet, indem er Papier zerschneidet. Mit chirurgischer Präzision haucht er Gesichtern Leben ein, unter denen sich das menschliche Wesen verbirgt.
Aus Papier macht er Kunstwerke: mit Hingabe, minutiöser Sorgfalt und einem unglaublichen Sinn für Ästhetik. Der Italiener Marco Gallotta, der aus Battipaglia in der Provinz Salerno stammt, hat das Papier gewählt, um sich auszudrücken und Botschaften zu übermitteln. Er schreibt nicht auf Papier, sondern seziert es mit chirurgischer Präzision mit der Technik des Paper Cuttings, das inzwischen zu seinem Markenzeichen geworden ist. In seinem Atelier in Harlem wählt er mehr oder weniger bekannte Gesichter aus, um sie in den Mittelpunkt seiner Werke zu stellen: unterschiedliche Gesichter, die jedoch eines gemeinsam haben, nämlich den Sinn für das Außergewöhnliche und das Engagement für die Gesellschaft. Marco Gallotta ist ein Gesichtskünstler, der Portraits anfertigt, indem er Papier zerschneidet, zusammenfügt und übereinanderlegt, um so eine einzigartige Wirkung zu erzielen, die sich nicht nur auf die Ästhetik beschränkt, sondern zu einer Metapher des menschlichen Wesens wird. Hinter jeder verwendeten Papierschicht offenbart sich die Reinheit des Ichs und deswegen gleicht keine Arbeit der anderen. Wenn er sein Skalpell benützt, um Schnitte in sein Werk zu legen, zieht er keine vorgezeichnete Linie nach, sondern seine Hand wird vor allem von Gefühlen und Spontaneität geleitet. Die so entstandenen Schnitte werden auf diese Weise zu den pulsierenden Adern der Kunst. In New York hat er, aufgrund der Vitalität, die diese Stadt ausstrahlt, seinen Weg gefunden, obwohl er seine italienische Mentalität beibehalten hat, die ihm Inspiration und die künstlerische Kultur vermittelt hat. Heute ist seine künstlerische Sprache global und emotional, und um sie zu verstehen, muss man nur genau hinsehen.
Aus der italienischen Provinz nach New York, von Battipaglia nach West Harlem: was bedeutet diese Bewegung für deine künstlerische Laufbahn?
Als ich beschloss, meine Stadt zu verlassen, habe ich das vor allem aus Abenteuerlust getan. Ich wollte immer Neues kennenlernen, neue Orte entdecken und Erfahrungen mit anderen Kulturen machen. Das multiethnische und multikulturelle New York war genau der Ort, an dem ich meine Erfahrungen bereichern konnte, und deshalb spielt er eine ganz wichtige Rolle für meine Karriere.
Als ich Ende der 90er Jahre nach New York kam, begann ich, mich mit Künstlern zu treffen, vor allem mit Illustratoren, und so habe ich eine neue Welt entdeckt. Die Energie war unglaublich, Kunst gab es überall und in verschiedener Form: und hier habe ich, nach einer kurzen Pause, wieder angefangen zu zeichnen. Meine Sujets waren nicht mehr die Landschaften des Trentinos oder des Venetos, wo ich die Jahre zuvor gelebt habe, sondern das Chaos
der Großstadt mit all seinen Menschen, die hektisch umherlaufen. New York war – und ist noch immer – eine meiner größten Inspirationsquellen. New York ist die ideale Plattform für künstlerischen Ausdruck, ein einzigartiger Ort, wo die Kreativität der unzähligen Kulturbewegungen zusammenfließt und so Synergien und neue Anreize schafft. Die Emotionen, die ich verspüre, wenn ich das betrachte, was jeden Tag passiert, die Leute und die beeindruckende Architektur, das alles spiegelt sich in meinen Werken wider. Das ist unvermeidlich.
Du hast das Papier gewählt, um dich auszudrücken: was hat dich dazu veranlasst, ein so empfindliches und besonderes Material zu verwenden?
Schon als kleiner Junge liebte ich Papier. Ich erinnere mich, dass ich oft in die Druckerei des Vaters eines Freundes ging und glücklich war, zwischen den Paletten herumzustreifen, die voller Papier waren. Es gab dort glattes, raues, buntes und Packpapier… für mich hatte dieser Ort etwas Magisches. Heute benütze ich alle Arten von Papier: Fotografien, Buchseiten, alte Filmplakate, Zeitungen und Zeitschriften, alles, was ich zufällig finde. Meine Bearbeitung, die ich mit Klingen, Feuer und Wachs durchführe, verändern das Bildmaterial oder das beschriebene Papier und geben ihm eine neue Bedeutung. Was hast du gemacht, um die Technik des Paper Cuttings zu erneuern?
Meine Technik ist das Ergebnis ständiger Studien und Experimente. Ich habe versucht, eine uralte Technik, die bis ins 4. Jahrhundert zurückreicht, zu modernisieren und vor allem einzigartig zu machen. Für meine Werke arbeite ich, wie bei einer Operation, mit Skalpellen. Daraus entsteht eine Überlagerung von Bildern, auf die ich manchmal noch Farbe oder Wachs auftrage.
Der Schnitt wird zu einem Instrument, um Kunstwerke zu schaffen: sind das Reduzieren und das Übereinanderlegen Formeln, die deine persönliche Weltsicht ausdrücken?
Mit dem Schneiden beabsichtige ich, über den puren Schein hinauszugehen und die reine Essenz meiner Objekte einzufangen. Meine Arbeiten enthüllen das verborgene Außergewöhnliche und die minutiösen Schnitte und das Überlagern der Bilder sind eine Metapher, um die Bruchstückhaftigkeit der Wahrheit und ihre Entwicklung darzustellen.
Du hast berühmte Personen wie Will Smith und Leonardo Di Caprio portraitiert: nach welchen Kriterien wählst du die Personen aus und was sollen ihre Gesichter erzählen?
In ein paar Fällen, wie zum Beispiel bei Will Smith und Samantha Bee, waren die Portraits eine Auftragsarbeit. Im Allgemeinen verbindet die Personen, die ich für meine Werke auswähle, die Tatsache, dass sich jeder einzelne von ihnen für die Gesellschaft und die Umwelt engagiert. Zu den berühmtesten Portraits gehören bekannte Gesichter wie Lady Gaga, Freddy Mercury, Obama und Spike Lee. Mit meinen Bildern versuche ich, den Betrachter dazu anzuregen, stehenzubleiben und auch die kleinsten Details zu studieren. Meine Objekte werden dekonstruiert und auseinandergenommen. So wird das Portrait zu einem Mittel, mit dem man die intimsten Gefühle der Person erforschen kann.
Bei deinen künstlerischen Studien erkennt man die Absicht, eine positive Botschaft zu vermitteln: hat die Kunst die Macht, die Welt zu verändern?
Meine Kunst dient nicht nur der reinen Ästhetik, sondern sie soll eine positive Botschaft vermitteln, die der Betrachter verstehen kann, wenn er seinen Blick auf meinen Werken ruhen lässt. Ich glaube, auch kleine Taten
können große Veränderungen auslösen. Um Paulo Coelho zu zitieren: „Jede Geste eines Menschen ist heilig und hat Konsequenzen“. Ich halte mich für einen sozial engagierten Künstler, der Kunst macht, um die Welt zu verbessern. Oft stelle ich meine Kunst Wohltätigkeitsorganisationen zur Verfügung, die in verschiedenen Bereichen tätig sind, angefangen vom Kampf gegen die Ausbeutung und den Menschenhandel bis hin zum Umweltschutz.
Natürliche Elemente ziehen sich wie ein starker roter Faden durch deine Werke: willst du mit deiner Arbeit das Umweltbewusstsein wecken?
Das Thema Natur steht oft im Mittelpunkt meiner Arbeiten, in meiner Kunst ist das Verhältnis zwischen Mensch und Natur wesentlich. Die Personen sind oft eins mit der Natur und die „Schnitte“werden durch die Elemente Wind, Wasser und Feuer inspiriert. Die Botschaft, die ich vermitteln will, soll eine Mahnung sein, um ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, wie wichtig es ist, unseren Planeten respektvoll zu behandeln. Die Natur und der Mensch gehören zusammen: der Mensch ist Natur und Teil von allem, was es auf der Erde, auf der wir leben, gibt. Es war kein Zufall, dass ich im Veneto und im Trentino gelebt und dort als Bergführer gearbeitet habe, bevor ich eine andere Richtung eingeschlagen habe und nach New York gegangen bin. Im Trentino und im Veneto habe ich mitten in der Natur gelebt und konnte sie in ihrer ganzen Schönheit bewundern.
Was hast du an italienischer Kultur beibehalten und was haben dir die Erfahrungen in Amerika gebracht? Natürlich trage ich in mir den angeborenen Sinn für das Schöne, den wohl fast alle Italiener haben, und der mir in der Welt der Kunst und der Mode in den Staaten sehr hilfreich war. Meine Beziehung zu Italien ist sehr stark, obwohl ich inzwischen fast länger in New York gelebt habe als in Italien. Ich habe eine solide Brücke zwischen New York und Italien errichtet und oft arbeite ich mit italienischen Firmen, Galerien und Institutionen zusammen. Ich verdanke beiden Ländern viel: das eine hat mir die Schönheit beigebracht, das andere den Pragmatismus und das Tempo.