Der konservative Ansatz
ausgesetzt man startet wirklich bei Null und ohne große Vorkenntnisse oder Erfahrungen, jedoch nur in den seltensten Fällen dazu aus die hohen Erwartungen vieler Kunden zu erfüllen. Woran liegt das? Das Produkt Lautsprecher und auch die dazugehörige Elektronik – früher noch in Form von Röhrentechnik – gibt es mittlerweile seit mehr als 100 Jahren. Die Technik ist also nicht mehr ganz neu und wir haben uns fast schon ein bisschen daran gewöhnt. Wir nehmen es irgendwie schon als selbstverständlich an, dass Elektroakustik existiert und funktioniert. Und dennoch gibt es, ähnlich wie beim KFZ, auch heute noch unzählige Hersteller, die bereits seit Jahrzehnten und über Generationen hinweg an der Weiterentwicklung des Schallwandlers und seiner Spielfreunde arbeiten. Das Wirkungsprinzip, von wenigen Ausnahmen abgesehen, bleibt aber immer wieder das Selbe. Spulen, Magneten und Membranen. Gibt es da wirklich noch so viel zu verbessern, oder wäre es nicht einfach mal an der Zeit die bisher gängigen Standards und Konzepte über Bord zu werden und auf einem weißen
Blatt Papier das Rad neu zu erfinden?
Wissen Sie eigentlich, was es immer mit dem MK1 und MK2 usw. hinter verschiedenen Produktbezeichnungen zu tun hat? Wir klären Sie auf: MK1 bedeutet „Mark 1“. Das ist ursprünglich mal der Name eines ganz speziellen technischen Gerätes gewesen. Um ganz konkret zu werden: Es war der Name eines britischen Panzers. Kein Scherz. Nicht irgendein Panzer, sondern der weltweit erste Kampfpanzer überhaupt! Er wog 28 Tonnen und kam im ersten Weltkrieg erstmalig zum Einsatz. Können Sie sich vorstellen, was das für die Soldaten in den Schützengräben damals für ein furchteinflößender Anblick gewesen sein muss? Der Mark 1 hat so einen – wortwörtlich und traurigerweise – einschlagenden Erfolg gehabt, dass man beschloss das Konzept des gepanzerten Schützenwagens weiter zu entwickeln. Aus dem Mark 1 wurde der Mark 2, aus dem Mark 2 später der Mark 3 und so weiter, sie wissen schon. Die Bezeichnung Mark ist gleichzusetzen mit der Wortbedeutung „Modell“, kommt also eigentlich aus der Militärsprache der Briten und gibt eine Art fortlaufende Entwicklungsnummer an.
Und dieser Nomenklatur-usus hat sich im Laufe der Jahrzehnte auch auf andere Technologiesektoren ausgebreitet. So finden sich auch heute Produkte in den Regalen und Shops, die Kürzel wie MKII oder MK4 tragen. Manchmal klein geschrieben, manchmal groß, manchmal mit römischen Ziffern, manchmal mit arabischen. Eins bleibt ihnen gemein, sie geben die Generation der Überarbeitung an. Es ist die klassische Variante des inkrementellen Entwickelns. Nicht nur die Dänen von Dynaudio machen das mit ihrer neuen Contour 30i (Test ab Seite 74) auch Monitor Audio macht handhabt es bereits in der 6. Generation (6G) so und auch viele, viele andere namhafte Hersteller haben sich einem Vorgang verschrieben, den man vielleicht auch als konservative Progression bezeichnen könnte. Das Prinzip dahinter ist: Behalten was gut ist, verändern und verbessern, was noch nicht gut genug ist. So ergibt sich über Jahre und Jahrzehnte der Forschung und Entwicklung ein Fortschritt, eine Annäherung an
das Optimum, mit dem Ergebnis, dass ein Mk7-produkt unglaublich ausgereift und kaum mehr zu perfektionieren scheint. Wie zum Beispiel der aktuelle Technics SL-1200 MK7. Ein MK1 hat in der Regel gegen ein MK7 keine Chance. Jedenfalls nicht, wenn man den konservativen Ansatz wählt, graduell und inkrementell zu optimieren. Aber es geht auch anders.
Der disruptive Ansatz
Beim disruptiven Ansatz geht es nicht darum ein Produkt zu entwickeln und dieses über die Zeit immer besser zu machen, sondern – schließlich geht es ja auch immer darum, dass der Kunde das beste Produkt möchte – etwas zu entwickeln, was komplett anders und neu ist, als alles, was es vergleichbares im Moment auf dem Markt gibt und was sich dadurch einen Vorteil verschafft. Ein branchenfremdes Beispiel wären Elektrofahrzeuge, siehe Tesla, im Vergleich zu Verbrennungsmotoren, um nochmal auf das Thema KFZ zurück zu kommen. Aber auch in der Audiobranche gibt es immer wieder disruptive Entwicklungen. Der Übergang von Vinyl zur CD ist zum Beispiel disruptiv gewesen, aber auch solche Produkte wie
True Wireless Kopfhörer sind im direkten Vergleich zu kabelgebundenen Kopfhörern disruptiv. So ein technischer Vorteil hält für den Initiator meist nur eine kurze Zeit an, siehe Apple. Mittlerweile hat jede Marke, die etwas auf sich hält, True Wireless Inears im Portfolio. Der Witz ist, durch Disruption, also das „Unterbrechen“der klassischen Entwicklung und der „Störung des Marktes“, verschaffen sich die Hersteller in kurzer Zeit enorme Marktanteile! Natürlich wollen alle auf dem neusten Stand sein und die aktuellsten technischen Neuerungen nutzen, selbst wenn es vielleicht Mitbewerber gibt, die besser klingen, weil sie bereits seit 50 Jahren oder mehr an ihren Kopfhörern entwickeln. Wenn sie jedoch nicht mit der Zeit gehen, müssen sie in der Regel mit der Zeit gehen… Aus Disruption ergeben sich dadurch teilweise marktbeherrschende Marken, weil Patente angemeldet wurden oder einfach, weil ein Unternehmen seiner Zeit voraus war. Apple hat zum Beispiel, Stand heute, eine Marktdurchdringung von mehr als 60 Prozent im Inear-kopfhörerbereich. Alle anderen Mitbewerber teilen sich den Rest. In den 80ern war es mit der CD bei Philips und Sony ähnlich. Kein Wunder also, dass immer mehr große Technologieunternehmen Disruption auf ihrer Agenda stehen haben.
Neue Märkte
Märkte verändern sich ständig. Angebot und Nachfrage. Nicht erst seit der Coronakrise steht der Einzelund Fachhandel unter enormen Druck. Die Entwicklungen der letzten Monate überschlagen sich dahingehend zusehends. Geschäfte waren oder wurden geschlossen. Sind es teilweise immernoch. Messen abgesagt. Informationsmöglichkeiten und Vorführungen verlagern sich ins Internet und in semi-private Hinterzimmer und Präsentationsräume. Wer einfach nur einen Lautsprecher oder Verstärker kaufen möchte, macht das eventuell online. Aber sind wir mal ehrlich, so ab ca. 2 000 Euro geht man dann in der Regel doch eher zu einem Fachmann und/oder lässt sich beraten. Oder aber man macht es wie Thomas Carstensen von Inklang. Bei Inklang kann man seinen Lieblingslautsprecher individuell in einem Konfigurator am heimischen PC zusammenstellen, der dann in der Hamburger Manufaktur genau nach Maß und Farbe konfektioniert und zusam
mengebaut wird. Die Zustellung erfolgt per Versand. Wer nicht gleich All-in gehen möchte und vielleicht schlechte Erfahrungen mit der berühmten Katze im Sack gemacht hat, kann sich bei Inklang einen so genannten „Probe-weekender“bestellen. Heißt, gegen eine kleine Servicegebühr können Sie sich das Objekt der Begierde über das Wochenende ausleihen und in Ruhe zuhause ausprobieren. In Ihrem Raum, an Ihrer Kette. Die Lautsprecher werden Ihnen in einem stabilen und rollbaren Koffer angeliefert, der sich einfach durch Dreh-/kippverschlüsse öffnen lässt. Je nach Modell stehen oder liegen die Lautsprecher in den gepolsterten Koffern. Um die Logistik- und Handlingkosten niedrig zu halten, ist die Anlieferung immer freitags bzw. die Abholung immer montags vorgesehen. Abweichende Termine sind daher nicht möglich. Ein spannendes und innovatives Konzept von dem wir uns wünschen würden, dass es noch mehr Hersteller und Vertriebe in ihren Service-katalog aufnehmen. Sie sehen, nicht nur Geräte werden entwickelt, sondern auch ganze Prozesse und Vertriebswege. Das Aufkommen des Direktvertriebs, wie ihn zum Beispiel Nubert praktiziert, ist für den Fachhandel disruptiv. So lange, bis ein Großteil das Konzept assimiliert oder für sich selbst adaptiert hat. Genau das sehen wir gerade in der Corona-krise. Viele Vetriebe verkaufen mittlerweile direkt im Internet, parallel zum Fachhandelsnetzwerk, was natürlich nach wie vor seine Vorteile hat, gerade bei erklärungsbedürftigen Produkten. Langfristig werden es die klassischen Fachhändler vermutlich aber immer schwerer haben – wenn sie die Krise überhaupt finanziell überstehen – sich gegen Flagship- und Popupstores, Social Media Advertising und das Internet im Allgemeinen zu behaupten. Ihr größter Trumpf? Die unternehmerische Unabhängigkeit. Denn das kann sich auch auf die Qualität der Beratung auswirken.
Neue Wege
Man muss aber auch nicht immer das Rad neu erfinden. Manchmal
reicht es eine Technologie zu nehmen, die schon wieder ein paar Jahre in der Schublade verschwunden ist, oder die sich nie so richtig durchsetzen konnte, und diese an die aktuelle Zeit anzupassen. Das passiert zum Beispiel gerade bei Sennheiser. Vor nicht allzu langer Zeit hat Sennheiser das Unternehmen Dear Reality gekauft. Dear Reality beschäftigt sich mit binauralen Technologien. Binaurales Hören gibt es bereits relativ lange, bisher fristete es aber eher ein Nischendasein. Das soll sich nun bald ändern, denn Sennheiser möchte mit einer Weiterentwicklung von Dear Reality das binaurale Format ins 21. Jahrhundert holen. Das nennt sich dann 8Dsound. Im Prinzip handelt es sich um Algorithmen, die Musikproduzenten oder zum Beispiel auch Spieleentwickler nutzen können, um objektbasiert Geräusche oder Musik in binaurale Signale umzuwandeln und diese dann frei im Kopf zu platzieren. Für den Endverbraucher ändert sich technisch nich viel, denn Binaural 2.0 ist mit allen handelsüblichen Kopfhörern kompatibel. Aber der Content wird vielschichtiger und auch dynamischer. Bisher wurden binaurale Aufnahmen in der Regel über Kunstköpfe realisiert, ab sofort machen das Plug-ins, mit denen jedes x-beliebige Signal frei im Raum platziert werden kann und das sogar in Interaktion mit dem Nutzer. Super-spannend!
Sie sehen, Entwicklung steht niemals still, denn wir Menschen sind neugierig und immer auf der Suche nach einer noch besseren Lösung. Welche Methode für Ihre Entwicklung die beste ist, lässt sich schwer sagen. Schlussendlich brauchen wir wohl beides. Sowohl die klassisch progressiv-konservative Entwicklung – Gutes erhalten, Schlechtes optimieren, als auch den disruptiven, innovativen Fortschritt. Routine und Revolution. Aber allen voran brauchen wir viel Mut, Kreativität, einen offenen Geist, offene Ohren und Durchhaltevermögen, wenn Hifi und High End auch in 10 Jahren noch eine technologische Relevanz haben soll.