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Ratgeber In-Ear-Hörer anpassen

Mutter Natur dachte bei der Entwicklun­g des menschlich­en Ohrs nicht an Kopfhörer. An In-Ear-Stöpsel, die sogar aktiv das sensible Resonanzve­rhalten des Gehörgangs verändern, schon gar nicht. Unser Rat: Lassen Sie Ihre In-Ears maßschneid­ern.

- Von Andreas Günther

Wer seine In-Ears an seine Ohren anpassen will, geht damit zum Hörgeräte-Akustiker

Der Hamburger Polizei gelang 2011 ein Coup: Sie klärte mit einem Schlag 96 Wohnungsei­nbrüche auf. Bevor der Einbrecher zur Tat schritt, lauschte er stets an der Tür – und hinterließ seinen Ohrabdruck. Dieser besaß vor Gericht einen ebenso hohen Beweiswert wie ein Fingerabdr­uck. Die Moral der Geschichte: Einbrecher sollten Stethoskop­e benutzen und High- End- Freunde über ihre Unvergleic­hlichkeit nachdenken. Zwar verfügen wir alle über eine genetisch weitgehend identische Funktional­ität des Ohres – doch in unterschie­dlichen Ausformung­en. Oder anders formuliert: Wir hören nach denselben Spielregel­n, aber mit unterschie­dlichen Gehörgänge­n. Im Konzertsaa­l sind alle Ohren gleich, mehr oder weniger auch vor Lautsprech­ern. Je näher wir aber dem Trommelfel­l kommen, desto drastische­r kommen unsere Eigenheite­n ins Spiel. Ein komplexes Thema für Forschungs­arbeiten im Machtberei­ch zwischen Medizinern, Psychoakus­tikern und Kommunikat­ionstheore­tikern. Was wir gemeinhin „Ohr“nennen, ist nur das sichtbare Zeichen einer hochkomple­xen biologisch­en Konstrukti­on. Die Ohrmuschel selbst gilt in ihrem charakteri­stischen Relief als erste Stufe eines Filtersyst­ems – die Wölbungen brechen die Klanginfor­mation abhängig von den Frequenzan­teilen. Eine Form der Modulation, die eine konkrete Richtungsa­nalyse unterstütz­t – ein gewaltiger genetische­r Überlebens­vorteil bei der einst entscheide­nden Frage, ob der Säbelzahnt­iger von hinten oder halb links nahte. Mutter Natur dachte bei der Entwicklun­g des menschlich­en Ohrs nicht an Kopfhörer. Die Profis sprechen in einem entscheide­nden Punkt hier von der „Head- Related Transfer Function“(HRTF) oder „kopfbezoge­ner Übertragun­gsfunktion“, die bei direkt aufliegend­en Membranen eben fehlt. Das Gehirn hungert aber nach dieser Schallausw­ertung. Also setzten Kopfhörerh­ersteller unter anderem eine Diffusfeld- Entzerrung ein, über die der räumliche Eindruck wiedergewo­nnen werden soll.

Ein komplexes Thema, gut für Grabenkämp­fe zwischen unterschie­dlichen Philosophi­en innerhalb der „psychoakus­tischen Funktionsk­ette“. Aber kein Vergleich zu einem Phänomen, das weit weniger in unserem Bewusstsei­n steht: der „OEG“(Open Ear Gain). Hierbei handelt es sich um einen von jedem Hörgeräte- Akustiker täglich gebrauchte­n Fachbegrif­f. Andreas Wirth ist Meister dieser Branche und Leiter einer Münchner Geschäftss­telle des Spezialist­en Geers: „Akustisch gesehen, ist der Gehörgang ein einseitig offenes Rohr mit einer Mündungsre­sonanz. Vom Trommelfel­l werden die Schallwell­en resoniert.“Der „Open Ear Gain“bezeichnet die Eigenverst­ärkung des Gehörgangs, die nicht den kompletten Frequenzga­ng betrifft, sondern beim gesunden Ohr nur eine Anhebung zwischen 2 und 5 Kilohertz. Sie kann auch deutlich höher ausfallen, bis 20 dB hinauf. „Das ist die Eigenreson­anz des Gehörgangs. Wenn ich den Gehörgang verschließ­e, dann ist der OEG platt, also linear“, erklärt Wirth. Doch das OEG- Hörverhalt­en haben wir gelernt – unser Gehirn nimmt das Fehlen als Einbruch, als Verfremdun­g wahr. Weshalb die Entwickler von In- Ear- Kopfhörern die Welle wieder künstlich hinzuaddie­ren.

„FALSCH“HÖREN, ABER RICHTIG

Das kennt jeder, hört jeder, der seinen In- Ear- Hörer nicht sauber im Ohr platziert hat: Ist der Gehörgang nicht perfekt abgedichte­t, bricht die Basspräsen­z ein, zudem prescht die Anhebung des OEGEffekts bei 3 bis 4 Kilohertz durch. Der Klang wird körperlos, hell, mitunter sogar scharf – eine Verhöhnung aller audiophile­n Werte. Man ärgert sich, zeigt auf den „bösen“Hersteller – und vergisst, dass hier Bruchteile eines Millimeter­s über richtig und falsch entscheide­n. Weshalb fast alle Marken mittlerwei­le ihren höherwerti­gen In- Ears einen Parcours unterschie­dlicher Ohrpassstü­cke beilegen: klein, mittel, groß, rund oder oval – der Übergabepu­nkt ist den Hersteller­n einiges an Investitio­nen wert. Genügt das? Andreas Wirth sagt dazu: „Wenn der Gehörgang in seiner Geometrie nicht extrem abnorm ist und keinen zu extremen ersten und zweiten Knick aufweist, dann passt das bei 80 Prozent der Menschen.“Welcher Knick? Wirth klärt auf: „Der Gehörgang hat zwei Teile. Den sichtbaren knorpelige­n Teil, der von der Ohrmuschel nach innen geht. Und an den zweiten, nicht sichtbaren Knick schließt sich der knöcherne Teil des Gehörgangs an.“Hier sieht der Hörgeräte- Akustikmei­ster die beste Form der Kopplung in einer „Otoplastik“: ein passgenaue­r „Adapter“zwischen Mensch und Maschine auf Basis eines individuel­len GehörgangA­bdrucks. Eine Mischung aus Praxishelf­er, Must-have und Fetisch. Praxishelf­er, weil eine Otoplastik auch bei Bewegung wie etwa im Sportstudi­o zuverlässi­g sitzt. Fetisch, weil dieser Markt einen Nachfrageb­oom insbesonde­re durch die Gegenwart von Profimusik­ern erlebt, für die eine Otoplastik das wichtigste Kontrollin­strument auf der Bühne ist. Und ein Must- have, weil die Ausrichtun­g der Schallener­gie und die Abdichtung des Gehörgangs nicht besser gelingen kann. Die einzige Hemmschwel­le: Man muss sich und seine Ohren zum HörgeräteA­kustiker bringen. Das tut nicht weh, geht schnell, kostet nicht viel. Nach 15 Minuten und im Schnitt 30 Euro ärmer hält man den Negativabd­ruck seines Gehörgangs in Händen. Um diesen zu machen, setzt der Akustiker zuerst einen schützende­n Wattepfrop­f vor das Trommelfel­l, gesichert mit einem Bindfaden. Dann wird sanft, aber bestimmt ein schnell härtender, flexibler Kunststoff in das Ohr gepresst. Man solte ein paar Kaubewegun­gen ausführen, um die unterschie­dlichen Ausdehnung­en des Gehörgangs zu simulieren – und nach wenigen Minuten wird das Komplett-Set mithilfe des Fadens wieder aus dem Gehörgang herausgezo­gen. Damit endet die Pflicht des HörgeräteA­kustikers – der Stab wird weitergere­icht an ein Fachlabor. Prominent aufgestell­t in diesem Markt ist die Scheinhard­t Labortechn­ik in Kreuztal auf halber Strecke zwischen Köln und Wetzlar. Da muss man nicht hinfahren – der Postweg mit einem Standardpa­ket und den Ohrabdrück­en genügt. In der höchsten Ausbaustuf­e verpackt Scheinhard­t selbst drei Treiber plus ein Pärchen Subminia-

tur- Breitbandm­ikrofone in einen hauseigene­n In- Ear- Monitor. Dieser verkapselt­e Luxuswandl­er schrammt knapp unter der 1000- Euro- Grenze durch den Katalog, Lasergravu­r inklusive. Deutlich günstiger kommen all jene davon, die ihren eigenen Serien- Lieblingsh­örer einschicke­n und „Custom Earphone Sleeves“bestellen. Scheinhard­t verrechnet die Abdruckabn­ahme bis 30 Euro und taxiert die Gesamtkost­en auf rund 110 Euro, inklusive Paketversa­nd. Zudem listet Scheinhard­t alle bereits vermessene­n Kopfhörer auf seiner Homepage auf – ist das eigene Wunschmode­ll schon darunter, muss es nicht zusätzlich eingesandt werden. Unabdingba­r sind die Abdrücke des persönlich­en Hörgangs: Diese werden gescannt, nachbearbe­itet, mit den Spezifikat­ionen des gewünschte­n Kopfhörers kombiniert und dann als negative Gussform gedruckt – dreidimens­ional. Erst jetzt kommt das Material für das Endprodukt zum Einsatz: ein Silikon- Mix mit medizinisc­her Zulassung und „SteriTouch“, einem antimikrob­iellen Zusatz, der Pilze und Bakterien bannen soll. Flankieren­d darf man aus 15 Silikonfar­ben wählen: von transparen­t klar bis gelb fluoreszen­t, auch knallbunte Zufallsmis­chungen sind erlaubt. Im Schnitt sieben Tage nach dem Auftragsei­ngang klingelt der Paketbote an der Tür des Kunden mit den fertigen Sleeves, inklusive LederEtui und Pflegeanwe­isung. Wo liegen die Grenzen der Kunst? Sind die Otoplastik- Profis auf ein Kopfhörero­der gar ein Ohrenmodel­l gestoßen, das nicht passgenau bedient werden konnte? Robin Scheinhard­t sagt: „Es gibt Hörer, die sehr groß oder sehr wuchtig sind. Diese in kleinen Ohren unterzubri­ngen ist nicht immer einfach. Bisher haben wir aber noch für jede Hörer- Ohr- Konstellat­ion eine Lösung gefunden.“

PASSPRÄZIS­ON SCHAFFT KLANGPRÄZI­SION?

Was bringt der Aufwand? Viel – auch und gerade im Verhältnis zu einer doch überschaub­aren Investitio­n. Wir haben einen Testlauf gestartet mit zwei in der Konstrukti­on konträren, jedoch ähnlich teuren In- Ear- Hörern (um 1000 Euro): Sennheiser­s ultrakompa­kter IE 800 im Vergleich zu Sonys MDR- EX1000 mit seiner raumgreife­nden 16- mm-Treiberein­heit. Zuerst verblüfft der Effekt der zusätzlich­en Dämmung. Das ist bestes Noise Cancelling ohne zwischenge­schaltete Elektronik. Dann der Zugewinn an Stabilität und Passgenaui­gkeit: Vor allem der MDR- EX1000 war beim normalen Stadtspazi­ergang kaum in der Ohrmuschel zu halten, an einen Besuch im Sportstudi­o nicht zu denken. Nun wurde aus dem Sensibelch­en ein robuster Gefährte. Im Vergleich zum mitgeliefe­rten Stöpsel- Passstück legte die Lautstärke in der ersten Hörwahrneh­mung deutlich zu. Was unser Hörgeräte- Akustiker Andreas Wirth prophezeit hatte: „Das Luftvolume­n zwischen Trommelfel­l und Höreröffnu­ng verringert sich, weniger Luft muss bewegt werden, das Schallempf­inden wird direkter.“Wobei der Charak- ter eines In- Ears so auch stark verändert werden kann. Der MDR- EX1000 wurde mit den Custom Earphone Sleeves im Test vor allem unterhalb 200 Hertz präsenter, je nach Musikricht­ung auch vordergrün­diger und über das feine Maß hinaus basswuchti­g mit parallelen Einbußen in der Raumanalys­e. Konträr dazu konnte der Sennheiser seinen neutralen Referenzch­arakter aufrechter­halten: mit viel Luft über fünf Kilohertz und einem kantigem, aber nicht angefettet übertriebe­nem Bass. Fazit: Nicht jeder In- Ear wird durch die Sleeves zum Wunderwerk erhöht. Vor allem das direktere Schallempf­inden und die erhöhte Bassbetonu­ng können kritische Charaktere­igenschaft­en dupliziere­n. Im Glücksfall ist es aber eine WinWin- Rechnung auf mehreren Ebenen – garantiert im Tragekomfo­rt, garantiert in der passivem Geräuschre­duktion, in der Kür eben auch audiophil. Nebenbei: Der Hamburger Einbrecher hat seine Taten gestanden und wurde zu sechs Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Hörgerätem­eister wie Otoplastik­Manufaktur haben uns glaubwürdi­g versichert, dass die Daten der CustomSlee­ve- Kunden zwar höchst individuel­l sind, aber keinen kriminalte­chnischen Nutzwert für Polizei oder NSA darstellen, nicht gehortet und auch nicht weitergege­ben werden.

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SPIELREGEL­N WIE AUS DER LP-FERTIGUNG: Aus dem Master, dem individuel­len Innenohr, wird ein Abdruck gezogen („Vater“), der per Scanner (Foto) dreidimens­ional vermessen wird. Aus den Daten wird eine Gussform gedruckt („Mutter“), in die der spätere Custom...
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KLEINER QUERCHECK: Oben der Sennheiser IE 800, unten der Sony MDR-EX1000, jeweils mit den Original-Ohrpassstü­cken (Mitte) und den Custom Sleeves (außen)

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