Ratgeber In-Ear-Hörer anpassen
Mutter Natur dachte bei der Entwicklung des menschlichen Ohrs nicht an Kopfhörer. An In-Ear-Stöpsel, die sogar aktiv das sensible Resonanzverhalten des Gehörgangs verändern, schon gar nicht. Unser Rat: Lassen Sie Ihre In-Ears maßschneidern.
Wer seine In-Ears an seine Ohren anpassen will, geht damit zum Hörgeräte-Akustiker
Der Hamburger Polizei gelang 2011 ein Coup: Sie klärte mit einem Schlag 96 Wohnungseinbrüche auf. Bevor der Einbrecher zur Tat schritt, lauschte er stets an der Tür – und hinterließ seinen Ohrabdruck. Dieser besaß vor Gericht einen ebenso hohen Beweiswert wie ein Fingerabdruck. Die Moral der Geschichte: Einbrecher sollten Stethoskope benutzen und High- End- Freunde über ihre Unvergleichlichkeit nachdenken. Zwar verfügen wir alle über eine genetisch weitgehend identische Funktionalität des Ohres – doch in unterschiedlichen Ausformungen. Oder anders formuliert: Wir hören nach denselben Spielregeln, aber mit unterschiedlichen Gehörgängen. Im Konzertsaal sind alle Ohren gleich, mehr oder weniger auch vor Lautsprechern. Je näher wir aber dem Trommelfell kommen, desto drastischer kommen unsere Eigenheiten ins Spiel. Ein komplexes Thema für Forschungsarbeiten im Machtbereich zwischen Medizinern, Psychoakustikern und Kommunikationstheoretikern. Was wir gemeinhin „Ohr“nennen, ist nur das sichtbare Zeichen einer hochkomplexen biologischen Konstruktion. Die Ohrmuschel selbst gilt in ihrem charakteristischen Relief als erste Stufe eines Filtersystems – die Wölbungen brechen die Klanginformation abhängig von den Frequenzanteilen. Eine Form der Modulation, die eine konkrete Richtungsanalyse unterstützt – ein gewaltiger genetischer Überlebensvorteil bei der einst entscheidenden Frage, ob der Säbelzahntiger von hinten oder halb links nahte. Mutter Natur dachte bei der Entwicklung des menschlichen Ohrs nicht an Kopfhörer. Die Profis sprechen in einem entscheidenden Punkt hier von der „Head- Related Transfer Function“(HRTF) oder „kopfbezogener Übertragungsfunktion“, die bei direkt aufliegenden Membranen eben fehlt. Das Gehirn hungert aber nach dieser Schallauswertung. Also setzten Kopfhörerhersteller unter anderem eine Diffusfeld- Entzerrung ein, über die der räumliche Eindruck wiedergewonnen werden soll.
Ein komplexes Thema, gut für Grabenkämpfe zwischen unterschiedlichen Philosophien innerhalb der „psychoakustischen Funktionskette“. Aber kein Vergleich zu einem Phänomen, das weit weniger in unserem Bewusstsein steht: der „OEG“(Open Ear Gain). Hierbei handelt es sich um einen von jedem Hörgeräte- Akustiker täglich gebrauchten Fachbegriff. Andreas Wirth ist Meister dieser Branche und Leiter einer Münchner Geschäftsstelle des Spezialisten Geers: „Akustisch gesehen, ist der Gehörgang ein einseitig offenes Rohr mit einer Mündungsresonanz. Vom Trommelfell werden die Schallwellen resoniert.“Der „Open Ear Gain“bezeichnet die Eigenverstärkung des Gehörgangs, die nicht den kompletten Frequenzgang betrifft, sondern beim gesunden Ohr nur eine Anhebung zwischen 2 und 5 Kilohertz. Sie kann auch deutlich höher ausfallen, bis 20 dB hinauf. „Das ist die Eigenresonanz des Gehörgangs. Wenn ich den Gehörgang verschließe, dann ist der OEG platt, also linear“, erklärt Wirth. Doch das OEG- Hörverhalten haben wir gelernt – unser Gehirn nimmt das Fehlen als Einbruch, als Verfremdung wahr. Weshalb die Entwickler von In- Ear- Kopfhörern die Welle wieder künstlich hinzuaddieren.
„FALSCH“HÖREN, ABER RICHTIG
Das kennt jeder, hört jeder, der seinen In- Ear- Hörer nicht sauber im Ohr platziert hat: Ist der Gehörgang nicht perfekt abgedichtet, bricht die Basspräsenz ein, zudem prescht die Anhebung des OEGEffekts bei 3 bis 4 Kilohertz durch. Der Klang wird körperlos, hell, mitunter sogar scharf – eine Verhöhnung aller audiophilen Werte. Man ärgert sich, zeigt auf den „bösen“Hersteller – und vergisst, dass hier Bruchteile eines Millimeters über richtig und falsch entscheiden. Weshalb fast alle Marken mittlerweile ihren höherwertigen In- Ears einen Parcours unterschiedlicher Ohrpassstücke beilegen: klein, mittel, groß, rund oder oval – der Übergabepunkt ist den Herstellern einiges an Investitionen wert. Genügt das? Andreas Wirth sagt dazu: „Wenn der Gehörgang in seiner Geometrie nicht extrem abnorm ist und keinen zu extremen ersten und zweiten Knick aufweist, dann passt das bei 80 Prozent der Menschen.“Welcher Knick? Wirth klärt auf: „Der Gehörgang hat zwei Teile. Den sichtbaren knorpeligen Teil, der von der Ohrmuschel nach innen geht. Und an den zweiten, nicht sichtbaren Knick schließt sich der knöcherne Teil des Gehörgangs an.“Hier sieht der Hörgeräte- Akustikmeister die beste Form der Kopplung in einer „Otoplastik“: ein passgenauer „Adapter“zwischen Mensch und Maschine auf Basis eines individuellen GehörgangAbdrucks. Eine Mischung aus Praxishelfer, Must-have und Fetisch. Praxishelfer, weil eine Otoplastik auch bei Bewegung wie etwa im Sportstudio zuverlässig sitzt. Fetisch, weil dieser Markt einen Nachfrageboom insbesondere durch die Gegenwart von Profimusikern erlebt, für die eine Otoplastik das wichtigste Kontrollinstrument auf der Bühne ist. Und ein Must- have, weil die Ausrichtung der Schallenergie und die Abdichtung des Gehörgangs nicht besser gelingen kann. Die einzige Hemmschwelle: Man muss sich und seine Ohren zum HörgeräteAkustiker bringen. Das tut nicht weh, geht schnell, kostet nicht viel. Nach 15 Minuten und im Schnitt 30 Euro ärmer hält man den Negativabdruck seines Gehörgangs in Händen. Um diesen zu machen, setzt der Akustiker zuerst einen schützenden Wattepfropf vor das Trommelfell, gesichert mit einem Bindfaden. Dann wird sanft, aber bestimmt ein schnell härtender, flexibler Kunststoff in das Ohr gepresst. Man solte ein paar Kaubewegungen ausführen, um die unterschiedlichen Ausdehnungen des Gehörgangs zu simulieren – und nach wenigen Minuten wird das Komplett-Set mithilfe des Fadens wieder aus dem Gehörgang herausgezogen. Damit endet die Pflicht des HörgeräteAkustikers – der Stab wird weitergereicht an ein Fachlabor. Prominent aufgestellt in diesem Markt ist die Scheinhardt Labortechnik in Kreuztal auf halber Strecke zwischen Köln und Wetzlar. Da muss man nicht hinfahren – der Postweg mit einem Standardpaket und den Ohrabdrücken genügt. In der höchsten Ausbaustufe verpackt Scheinhardt selbst drei Treiber plus ein Pärchen Subminia-
tur- Breitbandmikrofone in einen hauseigenen In- Ear- Monitor. Dieser verkapselte Luxuswandler schrammt knapp unter der 1000- Euro- Grenze durch den Katalog, Lasergravur inklusive. Deutlich günstiger kommen all jene davon, die ihren eigenen Serien- Lieblingshörer einschicken und „Custom Earphone Sleeves“bestellen. Scheinhardt verrechnet die Abdruckabnahme bis 30 Euro und taxiert die Gesamtkosten auf rund 110 Euro, inklusive Paketversand. Zudem listet Scheinhardt alle bereits vermessenen Kopfhörer auf seiner Homepage auf – ist das eigene Wunschmodell schon darunter, muss es nicht zusätzlich eingesandt werden. Unabdingbar sind die Abdrücke des persönlichen Hörgangs: Diese werden gescannt, nachbearbeitet, mit den Spezifikationen des gewünschten Kopfhörers kombiniert und dann als negative Gussform gedruckt – dreidimensional. Erst jetzt kommt das Material für das Endprodukt zum Einsatz: ein Silikon- Mix mit medizinischer Zulassung und „SteriTouch“, einem antimikrobiellen Zusatz, der Pilze und Bakterien bannen soll. Flankierend darf man aus 15 Silikonfarben wählen: von transparent klar bis gelb fluoreszent, auch knallbunte Zufallsmischungen sind erlaubt. Im Schnitt sieben Tage nach dem Auftragseingang klingelt der Paketbote an der Tür des Kunden mit den fertigen Sleeves, inklusive LederEtui und Pflegeanweisung. Wo liegen die Grenzen der Kunst? Sind die Otoplastik- Profis auf ein Kopfhöreroder gar ein Ohrenmodell gestoßen, das nicht passgenau bedient werden konnte? Robin Scheinhardt sagt: „Es gibt Hörer, die sehr groß oder sehr wuchtig sind. Diese in kleinen Ohren unterzubringen ist nicht immer einfach. Bisher haben wir aber noch für jede Hörer- Ohr- Konstellation eine Lösung gefunden.“
PASSPRÄZISON SCHAFFT KLANGPRÄZISION?
Was bringt der Aufwand? Viel – auch und gerade im Verhältnis zu einer doch überschaubaren Investition. Wir haben einen Testlauf gestartet mit zwei in der Konstruktion konträren, jedoch ähnlich teuren In- Ear- Hörern (um 1000 Euro): Sennheisers ultrakompakter IE 800 im Vergleich zu Sonys MDR- EX1000 mit seiner raumgreifenden 16- mm-Treibereinheit. Zuerst verblüfft der Effekt der zusätzlichen Dämmung. Das ist bestes Noise Cancelling ohne zwischengeschaltete Elektronik. Dann der Zugewinn an Stabilität und Passgenauigkeit: Vor allem der MDR- EX1000 war beim normalen Stadtspaziergang kaum in der Ohrmuschel zu halten, an einen Besuch im Sportstudio nicht zu denken. Nun wurde aus dem Sensibelchen ein robuster Gefährte. Im Vergleich zum mitgelieferten Stöpsel- Passstück legte die Lautstärke in der ersten Hörwahrnehmung deutlich zu. Was unser Hörgeräte- Akustiker Andreas Wirth prophezeit hatte: „Das Luftvolumen zwischen Trommelfell und Höreröffnung verringert sich, weniger Luft muss bewegt werden, das Schallempfinden wird direkter.“Wobei der Charak- ter eines In- Ears so auch stark verändert werden kann. Der MDR- EX1000 wurde mit den Custom Earphone Sleeves im Test vor allem unterhalb 200 Hertz präsenter, je nach Musikrichtung auch vordergründiger und über das feine Maß hinaus basswuchtig mit parallelen Einbußen in der Raumanalyse. Konträr dazu konnte der Sennheiser seinen neutralen Referenzcharakter aufrechterhalten: mit viel Luft über fünf Kilohertz und einem kantigem, aber nicht angefettet übertriebenem Bass. Fazit: Nicht jeder In- Ear wird durch die Sleeves zum Wunderwerk erhöht. Vor allem das direktere Schallempfinden und die erhöhte Bassbetonung können kritische Charaktereigenschaften duplizieren. Im Glücksfall ist es aber eine WinWin- Rechnung auf mehreren Ebenen – garantiert im Tragekomfort, garantiert in der passivem Geräuschreduktion, in der Kür eben auch audiophil. Nebenbei: Der Hamburger Einbrecher hat seine Taten gestanden und wurde zu sechs Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Hörgerätemeister wie OtoplastikManufaktur haben uns glaubwürdig versichert, dass die Daten der CustomSleeve- Kunden zwar höchst individuell sind, aber keinen kriminaltechnischen Nutzwert für Polizei oder NSA darstellen, nicht gehortet und auch nicht weitergegeben werden.