DER GANZ GROSSE COUP
Die neue Cardeas von Audio Physic ist ein absoluter Superlautsprecher. Überraschung: Der Mitteltöner kommt ohne Zentrierspinne aus.
Diese Standbox aus Deutschland überzeugt mit ihrem Look und mit einem Klang wie aus einer anderen Welt
Es kann sich als fataler Irrtum herausstellen, andere Menschen aus irgendwelchen Gründen zu unterschätzen. Wer aus einem Dorf oder einer Kleinstadt kommt, mag genauso viel wissen oder zusammenbringen wie ein Städter, mitunter sogar mehr. So hat sich mancher deutsche Lautsprecherhersteller jenseits der Metropolen angesiedelt; Audio Physic ist einer davon. Die Adresse der Firma lautet Brilon, ein Städtchen von 25 000 Seelen im schönen Sauerland.
Ein solcher Firmensitz bietet vielleicht keine Berliner Philharmoniker, kein Konzert von Elton John, aber gerade das kann sich als unschlagbarer Vorteil erweisen: In Ermangelung großartiger Ablenkungen hat man Zeit und vor allem die notwendige Muße zum ausgiebigen Tüfteln. Manfred Diestertich ist das Mastermind von Audio Physic und auch der Schöpfer des neuesten und höchsten Standlautsprechers dieses Herstellers, der Cardeas. Sie ist der Traum, der Mount Everest im hauseigenen Bergmassiv – und ein Wunderlautsprecher für die Welt.
Die Hochtechnologie, die hinter diesem Klangwandler steht, hat allerdings auch ihren Preis: Wir reden hier über zwei stattliche Boxen, die zusammen stattliche 36 500 Euro kosten. Da atmen wir schwer, da vereinbaren wir vielleicht sogar einen Termin mit dem freundlichen Mann von der Sparkasse.
Lassen wir uns beeindrucken. Ich falle elegant in das Sofa im AUDIO- Hörraum. Eine wirklich große Box steht vor mir – 128 Zentimeter Höhe sind schon bemerkenswert. Unsere Aufmerksamkeit liegt zunächst auf den Auslegern und ihren Füßen: Diese Traversen sind vertrauenerweckend massiv. Zur Aufstellung ist jedoch die bewegliche Version mit dicken Kugeln unerlässlich. Nach einigem Experimentieren mit der Platzierung haben wir den besten Punkt gefunden – nicht zu weit entfernt, leicht auf den Hörplatz angewinkelt. Eigentlich das ideale Stereodreieck. Dann tauschen wir die Füße aus: Statt der einfachen Kugeln bauen wir die VCF V Magnet– Füße an, die im Lieferumfang beiliegen. Keine zusätzliche Investition ist dafür nötig, und der Klanggewinn ist enorm.
DIE GLANZNUMMER IST DER FLACHE MITTELTÖNER
Vier Chassis strahlen uns an: Der Tiefmitteltöner wird gedoppelt. Er umschließt einen echten Mitteltöner mit Phaseplug. Alle Membranen bestehen aus schwarz eloxiertem Aluminium. In der Höhe waltet eine weitere Konuskonstruktion mit einer schwarz eingefärbten Staubschutzkalotte aus Gewebe.
Die Glanznummer dieser Box ist jedoch der neue und überraschend flache Mitteltöner. Der ungemein geschickte Entwickler Man
fred Diestertich hat sich hier ein Modell einfallen lassen, das auf die übliche Zentrierungsspinne ganz einfach verzichtet. Wie haben Sie das gemacht, Herr Diestertich?
Nun, die Zentrierspinne verbindet ja das Schwingteil mit dem Korb. Die Spinne, auch Spider genannt, sorgt dafür, dass die Membran und die Schwingspule nach einem Impuls auch wieder zurückschwingen. Diestertich hat nun eine ausgesprochen komplexe Einspannung am Membranrand entworfen, welche die Funktion der Zentrierspinne sozusagen übernimmt. Wir sehen eine wahrlich bemerkenswerte Innovation.
DIE BASSREFLEXÖFFNUNG IST FEINSTES HIGHTECH
Was wir nicht sehen: Unten im Korpus pulsieren zwei Bassproduzenten gegeneinander. Das sind zwei Diagonalen mit 11 Zoll, Rücken an Rücken. Da lässt sich ein massives Bassfundament auslegen. Die Reflexenergie wird gen Boden geflutet. Hierzu entdecken wir keine klassische Öffnung, sondern eine große Fläche, geformt aus aus Keramikschaum, ultrahart, aber durchlässig. Das ist feinstes Hightech, das es nur hier gibt. Was im Materialmix hingegen verwundert: Die Planken, die Seitenteile bestehen tatsächlich aus Glas. Wie ist denn das möglich? Glas klingelt doch bekanntlich, es raubt Energie – warum setzt Audio Physic es als äußerste Schicht ein? Weil es extrem gut aussieht und weil man hier die Kunst gefunden hat, das normalerweise so „böse“Glas absolut effektiv in den guten Klang einzubinden.
DER TRICK MIT DEM GLAS
Audio Physic hat ein Hightech-Waben-/ Multiplex- Sandwich entwickelt. Das bedeutet, dass die Glasscheiben nicht hart auf dem Gehäuse liegen, sondern über eine Wabenstruktur bedämpft werden. Gerade die Mischung macht es so spannend: Hier haben die Tüftler zwei vollkommen unterschiedliche Werkstoffe mit vollkommen unterschiedlichen Eigenfrequenzen verbunden. Und zwar mit Erfolg: Da gibt es keine störenden Schwingungen, da hören wir nur ein perfektes „Knock“, wenn wir auf das Gehäuse klopfen. Was auch wunderbare Kombinationen vor den Augen entstehen lässt: Weißer Lack, transparentes Glas, bis hin zu Ebenholz in Hochglanz. Sagen wir es einmal absolut: Den Raum, in den dieser Lautsprecher nicht passt, den gibt es nicht. Optisch natürlich. Klanglich raten wir zu einem Zimmer mit einer Größe von mindestens 20 Quadratmetern.
Vinyl oder Stream? Uns steht der Sinn nach HiRes. Also lassen wir ein File in 24 Bit und 96 Kilohertz erklingen. Jean- Michel Jarre ist wieder da: Sein neues Album „Amazonia“widmet der große Franzose dem Zauber des Amazonas. Der Synthesizer feiert ein Fest, dazu kommt Atmosphäre aus Brasilien. Eine Klangsinfonie in neun Sätzen. Zuerst fällt der brachiale Bass auf, den die Cardeas aber niederzwang. Da waberte nichts. Das wirkte beinahe schlank, aber eben auch auf den Punkt genau. Im vierten Satz ertönen heftige Schläge unter 80 Hertz. Die Information war da, aber sie überlagerte nicht die Obertöne – das war karg, im tieferen Sinne jedoch hochmusikalisch. Noch ein Musiktipp, fast zu populär, um ihn zu nennen: Taylor Swift hat ihr frühes Album „Fearless“komplett neu gedeutet und eingespielt. Toll. Alles wirkt leichter und zugleich edler, „Love Story“trifft uns ins Herz. Der übliche Mix mit zwei Gitarren gegenüber in der Stereo- Achse. Dann das volle Gedeck. Und die Audio Physic Cardeas war sofort in dieser Musik zu Hause. Da stand das Klangbild deutlich vor den Membranen. Genau diese Momente trennen die sehr guten Lautsprecher von den Wundertieren. Wer Zeit und Geschmack gefunden hat, sollte sich unbedingt noch „Untouchable“vom neu- alten TaylorSwift- Album anhören – eine Ballade frei von jeder Show. Wir fühlen: Dieser Lautsprecher klingt am besten, wenn höchste Konzentration und Ehrlichkeit gefragt sind. Großartig und stark.