HIEB- UND STICHFEST
Ayon hat von seinem Röhren-Vollverstärker Scorpio die zweite Generation aufgelegt. Der trägt zwar immer noch den Namen des stachelbewehrten Spinnentiers, doch wenn er mit seiner erstaunlichen Kraft zusticht, verströmt er das süße Gift des Hochgenusses.
Der Erstkontakt sorgt gleich für ein Aha- Erlebnis: Die gewaltigen Zylinder über dem Netztransformator und den flankierenden Ausgangstrafos, die beim Vorgänger Ayon Audio Scorpio schwarz waren, tragen beim Scorpio II das verchromte, hochglänzende Silber der großen Ayon- Komponenten. Äußeres Zeichen für eine Art Zeitenwende bei dem Hersteller aus der Nähe von Graz: Die Technologie der Österreicher für ihre teuren Komponenten wandert jetzt auch in den „kleinen“Verstärker – mit einem Preis von rund 4000 Euro markiert der Scorpio II den Einstieg in die Ayon- Phalanx. Der in AUDIO 5/19 getestete Scorpio XS für 2850 Euro ist Geschichte.
Der zweite, auf das Antlitz konzentrierte Blick führt zu Verwunderung: Nanu, der Vorgänger präsentierte sein audiophiles Schmankerl doch unübersehbar an der Front. Der Ayon Scorpio führte auf Position 6 des mit östereichischem Eigensinn rechts angebrachten Eingangswahlschalter – neu- österreichisch natürlich „Input“benannt – das Wort „Triode“. Ein klares Signal an den Röhrenfan, dass sich die vier in aller glühenden Pracht aus dem Chassis reckenden Leistungsröhren, als KT88 gemeinhin dem Typ der Pentode zuzurechnen, auf Trioden umschalten liessen. So mancher Audiophile sieht in dieser Möglichkeit so etwas wie den röhrenden Unterschied zwischen Fiat und Ferrari, nur dass hier die leistungsschwächere Triode die Rolle des klangprächtigeren Ferrari übernnimmt.
Bei der Neuausgabe schrumpft der vermeintliche Zaubertrick auf den Buchstaben „T“. Und wo vorher noch die „Mute“-Stellung für Ruhe sorgte, gibt es jetzt einen fünften Eingang zu den vier Hochpegel- Einlässen des Vorgängers. Doch die Position 1 des Neuen darf nur anwählen, wer noch 350 Euro Aufschlag für ein Digitalboard entrichtet hat. Wobei
„Board“ein bisschen übertrieben klingt. Der Scorpio II beschränkt sich auf eine USB- B-Schnittstelle zum dahinterliegenden Digital- Analog- Wandler, der dafür bis zu 32 Bit Wortbreite und 384 Kilohertz Abtastfrequenz in Pulse Code Modulation (PCM) sowie Direct Stream Digital bis zu DSD256 verarbeitet.
TECHNOLOGISCH SPANNEND
Mit dem dritten Blick, nun auf die Röhren- Bestückung gerichtet, öffnet sich schon ein wenig die Sicht aufs Innenleben. Die macht klar, dass der Scorpio II bei aller äußeren Ähnlichkeit zum Einser tatsächlich ein anderer Verstärker ist. Überantwortete der Vorgänger noch Eingangs- und Treiberstufe insgesamt drei Doppeltrioden vom Typ 12AU7 (entspricht ECC82), so kommen jetzt pro Stereokanal je eine Doppeltriode 6SN7 – die man als eine Art Ahn von ECC81, 82 und 83 sehen kann – und eine Pentode des Typ 6SJ7 zum Einsatz. Das verlangt schon einmal eine ganz andere Schaltung zur Versorgung der pro Kanal zwei, im Push- Pull- Betrieb schuftenden Endröhren KT88, geliefert von Electro
Harmonix aus Russland. Ayon weist darauf hin, dass der geneigte Nutzer die getrennte Verstärkung von positiver und negativer Halbwelle des Musiksignals auch gerne der sockelgleichen, aber leistungsstärkeren KT150 oder der „echten“Pentode EL34 anvertrauen kann.
Die KT88 und ihre Namensvettern sind sogenannte Strahl(en)-Tetroden, also mit vier elektrischen Bauteilen bestückte Vakuumröhren: heizbare Kathode, Anode, Steuergitter plus Schirmgitter. Das Bremsgitter der Pentode ersetzen dann Strahl(en)-Tetroden durch gebogene Elektronenstrahl- Leitbleche. Wie auch immer: Die Trioden- Umschaltung der Scorpiound inzwischen auch manch anderer Verstärker besteht – stark verkürzt – darin, das Schirmgitter (Gitter 2) mit der Anode zu verbinden, was aus der Röhre elektrisch eine Triode zaubert. Akustisch weist diese ein anderes Rausch- und Verzerrungsverhalten auf und liefert klar weniger Leistung. Ayon schreibt dem Scorpio II im Pentodenbetrieb 2 x 45 Watt Musikleistung an 4 Ohm zu, im Triodenbetrieb schrumpft das auf 2 x 30 Watt, was das Labor in etwa so bestätigt. >>
Bestätigen kann der Autor, um dem Hörtest ein wenig vorzugreifen, auch tatsächlich einen anderen Klang im Triodenbetrieb. Anders, aber nicht unbedingt besser. Viel, sehr viel hängt hier vom verwendeten Lautsprecher ab. Mit wirkungsgradstarken Lautsprechern entfaltet der Scorpio II triodisch noch mehr Charme, streut etwas mehr Sternenstaub auf zarte Streicher, verleiht ausgebildeten Stimmen noch mehr Glanz. Freilich ohne bei Impulsen schlaff durchzuhängen: Bis zu recht hohen Pegeln hatten Bassdrums oder Trompeten noch ordentliche Statur und Kontur, doch an der B&W 802 D3 zog hier der Pentodenbetrieb glatt vorbei. Was den Entwicklern reichlich Respekt verschafft, denn sie verzichten komplett auf eine Gegenkopplung, die nach allgemeiner Lehrmeinung mit dem aus ihr resultierenden Dämpfungsfaktor vor allem für eine Disziplinierung von großen Bass- Chassis sorgt. Der Ayon Scorpio II ist der erste vom Autor getestete Verstärker mit Dämpfungsfaktor 1, in Worten: eins. Dass die Gesamtverzerrungen ( THD) der grundsätzlich gleichstrombeheizten Röhren sich auf gerade mal 0,26 Prozent summieren, zeugt von enormer Delikatesse der Schaltung und sorgsamst ausgewählten Bauteilen.
KLANGLICH ENTSPANNEND
Auch die ungemein aufwendige Stromversorgung spielt eine Rolle. Jede Stufe im Verstärker besitzt ihre eigene Abzapfung am gewaltigen Netz- Umspanner und auch ihre eigene Erdung. Das Netzteil selbst weist noch einen zusätzlichen Schnittbandkern-Transformator auf (zu sehen halblinks im Innenleben- Bild oben), der im Choke- Netzteil die Rolle der Spule übernimmt.
Ein weiteres technisches Highlight im Ayon-Verstärker stellt das einzigartige, mikroprozessorgesteuerte ArbeitspunktManagement dar. Die „Intelligent Auto Bias“genannte Schaltung regelt den
Arbeitspunkt der Röhren jeweils so, dass Leistungs- und Stromlieferfähigkeit der Kolben jederzeit voll ausgeschöpft werden. Beim Ausschalten misst die Automatik die Röhren durch und legt die Arbeitspunkte der heißen Kolben im Eprom ab. Beim Hochfahren justiert sie die Glimmer Twins entsprechend. Der Nutzer muss nicht mehr selbst zum Schraubendreher greifen, um die Klangleistung zu optimieren.
Was all die clevere Technik in der Praxis bringt, offenbarte ein von Beginn an freudvoller Hörtest. Die klanglich so abwechslungsreiche wie anspruchsvolle Hybrid- SACD von AUDIO 10/ 21 trieb den Ayon zu Höchstleistungen an. Und zum Ausgießen eines wahren Füllhorns an Details und Nuancen, die in ihrer Mannigfaltigkeit aber nicht nervten, sondern das Ohr umschmeichelten und die gestresste Seele entspannten. Weniger erbaulich formuliert: Der Ayon Scorpio II vermittelte sämtliche vom SACD-Spieler T+A MP 3100 HV gelieferten Informationen minutiös an die Lautsprecher weiter, ohne in Erbsenzählerei zu verfallen. Wie nur wenige Vollverstärker seiner Klasse konnte er musikalische Zusammenhänge offenlegen und auch stiften. Gleichzeitig war er durchaus kein Kind von Traurigkeit: Der Fun- Faktor bei exotischen Klangkombinationen oder Harmonien schien mit der Spieldauer stetig anzuwachsen. Selbst als es in der Kammerorchester- Fassung von Gustav Mahlers zehnter Sinfonie mit großer Trommel und herben Bläser- Akzenten auch mal richtig ernst wurde, bewies der Scorpio seine Raffinesse. Hiebe und Stiche blieben fest. Dabei mischte er aber auch heftigsten Attacken nie das Gift überzeichneter Obertonbrillanz bei. Und blieb selbst bei nun wirklich erklecklichen Pegeln behende und vor allem offen. Das bei manchen Röhren und selbstredend auch Transistoren immer wieder als nervend enpfundende Zukleistern komplexerer Klangereignisse kannte dieser Verstärker nicht.
Dass ihm beim „Black Album“von Metallica irgendwann die Luft ausging – geschenkt. Der im Wortsinn preiswerte Röhren- Amp soll nicht in der Metaldisco Angst und Schrecken verbreiten, sondern bei Musik- Gourmets für Wohlgefallen sorgen. Das tut er nach allen Regeln der Kunst – Hochgenuss garantiert.