Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Das brennende Eis
Der Schnee ist so weiß, dass die Eskimos (wie die Isländer) eine Fülle von Benennungen für die verschiedensten Phänomene des Schneeweiß haben. Der Künstler Olafur Eliasson, isländisch-dänischer Herkunft hat 2006 den Objektkasten „Your relativity of white“geschaffen; in ihm sind Fläschchen mit 76 verschiedenen Weißpigmenten aufgereiht. Und Georg Heym? Er löscht das Weiß mit einem einzigen Strich, mutet uns gleich in der ersten Zeile den „blauen Schnee“zu.
Wie erklärt sich diese Dissonanz? Die Expressionisten, auf der Suche nach dem revolutionären Ausdruck, verabscheuen die naturalistische, mit gewohnten Stimmungsrequisiten versehene Ästhetik. Sie desillusionieren und entzaubern, geben den Dingen durch eine eigenwillige, gesteigerte Farbgebung einen Zug ins Unheimliche.
Georg Heyms frühestes Wintergedicht aus seinem ersten und einzigen von ihm selbst zusammengestellten Band „Der ewige Tag“wurde im April 1911 veröffentlicht. Die eingangs gehäuften e-laute, die in Strophe zwei ausschließlich den Kreuzreim bestimmen, vergegenwärtigen eine ins Unendliche sich dehnende Winterlandschaft. Ihr Zeichen ist die Unbestimmtheit zwischen Land und Stadt (Chausseen). Selbst das „Hier“bedeutet sein Gegenteil, nämlich irgendwo. Wegweiser und sich querende Straßen (Kreuzweg!) geben weder Richtung noch Orientierung vor. Die Personifizierung (treffen sich, sprechen, ziehen weiter usw.) rückt sie in eine spukhafte Irrealität.
Alles Leben erscheint leer und abgestorben. Dafür steht als Gleichnis auch der zerschlissene Korb, mehr noch der Soldat, der den weißen Acker hin zum Leichenfeld verschiebt. Die Farbmetaphern zeichnen diese Bewegung nach (blau, violett, trübes Rot, bleich), wobei der Dichter das durchs Blau intonierte „violette Schweigen“als Todesschweigen fasst. In diese Winterwelt, die für Georg Heym den sinnbildlichen Charakter eines Weltwinters, einer Menschenöde gewinnt, fügt sich, dass in den fünf Strophen kein lyrisches Ich mehr greifbar ist.
Was so wohlgeordnet anmutet, steht unter starker Spannung. Das jambische Metrum wird (durch Doppelsenkungen) unterlaufen, Sätze stocken durch Zäsuren in der Versmitte, dann wieder laufen Zeilen um. Davon hebt sich das jambisch fließende Gedichtende auffallend ab, gipfelnd in der mythisierten Sonne und im Dynamismus des die Gegensätze von Eis und Feuer zusammenzwingenden Schlussbildes.
Der Dichter setzt hier den Untergang der Erstarrung groß in Szene, gemäß der Fürbitte in seinem Gedicht „Gebet“: „Herr gib uns das Feuer.“In diesem Feuer ist indes die Sehnsucht vieler Expressionisten nach Umbruch und Krieg buchstäblich verbrannt.