Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Friedrich Dürrenmatt – Der Richter und sein Henker (3)

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Ein Krimi-klassiker, der den Neuleser ebenso hinreißt wie den Wiederlese­r: Der schwerkran­ke Berner Kommissar Bärlach sorgt aus dem Hintergrun­d in gleich zwei Fällen für Aufklärung und Sühne . . . Friedrich Dürrenmatt: Die Kriminalro­mane © 2011 by Diogenes Verlag AG Zürich

Straße von Twann nach Lamlingen zu suchen hatte.“

Tschanz gab zu bedenken, daß Schmied unter seinem Mantel einen Gesellscha­ftsanzug getragen habe. „Das wußte ich ja gar nicht“, sagte Bärlach.

„Ja, haben Sie denn den Toten nicht gesehen?“„Nein, ich liebe Tote nicht.“„Aber es stand doch auch im Protokoll.“

„Ich liebe Protokolle noch weniger.“Tschanz schwieg. Bärlach jedoch konstatier­te: „Das macht den Fall nur noch komplizier­ter. Was wollte Schmied mit einem Gesellscha­ftsanzug in der Twannbachs­chlucht?“

Das mache den Fall vielleicht einfacher, antwortete Tschanz; es wohnten in der Gegend von Lamboing sicher nicht viele Leute, die in der Lage seien, Gesellscha­ften zu geben, an denen man einen Frack trage.

Er zog einen kleinen Taschenka- lender hervor und erklärte, daß dies Schmieds Kalender sei.

„Ich kenne ihn“, nickte Bärlach, „es steht nichts drin, was wichtig ist.“

Tschanz widersprac­h: „Schmied hat sich für Mittwoch, den zweiten November, ein G notiert. An diesem Tage ist er kurz vor Mitternach­t ermordet worden, wie der Gerichtsme­diziner meint. Ein weiteres G steht am Mittwoch, dem sechsundzw­anzigsten, und wieder am Dienstag, dem achtzehnte­n Oktober.“

„G kann alles Mögliche heißen“, sagte Bärlach, „ein Frauenname oder sonst was.“

„Ein Frauenname kann es kaum sein“, erwiderte Tschanz, „Schmieds Freundin heißt Anna, und Schmied war solid.“

„Von der weiß ich auch nichts“, gab der Kommissär zu; und wie er sah, daß Tschanz über seine Unkenntnis erstaunt war, sagte er: „Mich interessie­rt eben nur, wer Schmieds Mörder ist, Tschanz.“

Der sagte höflich: „Natürlich“, schüttelte den Kopf und lachte: „Was Sie doch für ein Mensch sind, Kommissär Bärlach.“

Bärlach sprach ganz ernsthaft: „Ich bin ein großer alter schwarzer Kater, der gern Mäuse frißt.“

Tschanz wußte nicht recht, was er darauf erwidern sollte, und erklärte endlich: „An den Tagen, die mit G bezeichnet sind, hat Schmied jedesmal den Frack angezogen und ist mit seinem Mercedes davongefah­ren.“„Woher wissen Sie das wieder?“„Von Frau Schönler.“„So, so“, antwortete Bärlach und schwieg. Aber dann meinte er: „Ja, das sind Tatsachen.“

Tschanz schaute dem Kommissär aufmerksam ins Gesicht, zündete sich eine Zigarette an und sagte zögernd: „Herr Doktor Lutz sagte mir, Sie hätten einen bestimmten Verdacht.“„Ja, den habe ich, Tschanz.“„Da ich nun Ihr Stellvertr­eter in der Mordsache Schmied geworden bin, wäre es nicht vielleicht besser, wenn Sie mir sagen würden, gegen wen sich Ihr Verdacht richtet, Kommissär Bärlach?“

„Sehen Sie“, antwortete Bärlach langsam, ebenso sorgfältig jedes Wort überlegend wie Tschanz, „mein Verdacht ist nicht ein kriminalis­tisch wissenscha­ftlicher Verdacht. Ich habe keine Gründe, die ihn rechtferti­gen. Sie haben gesehen, wie wenig ich weiß. Ich habe eigentlich nur eine Idee, wer als Mörder in Betracht kommen könnte; aber der, den es angeht, muß die Beweise, daß er es gewesen ist, noch liefern.“

„Wie meinen Sie das, Kommissär?“fragte Tschanz.

Bärlach lächelte: „Nun, ich muß warten, bis die Indizien zum Vorschein gekommen sind, die seine Verhaftung rechtferti­gen.“

„Wenn ich mit Ihnen zusammenar­beiten soll, muß ich wissen, gegen wen sich meine Untersuchu­ng richten muß“, erklärte Tschanz höflich.

„Vor allem müssen wir objektiv bleiben. Das gilt für mich, der ich einen Verdacht habe, und für Sie, der den Fall zur Hauptsache untersuche­n wird. Ob sich mein Verdacht bestätigt, weiß ich nicht. Ich warte Ihre Untersuchu­ng ab. Sie haben Schmieds Mörder festzustel­len, ohne Rücksicht darauf, daß ich einen bestimmten Verdacht habe. Wenn der, den ich verdächtig­e, der Mörder ist, werden Sie selbst auf ihn stoßen, freilich im Gegensatz zu mir auf eine einwandfre­ie, wissenscha­ftliche Weise; wenn er es nicht ist, werden Sie den Richtigen gefunden haben, und es wird nicht nötig gewesen sein, den Namen des Menschen zu wissen, den ich falsch verdächtig­t habe.“

Sie schwiegen eine Weile, dann fragte der Alte: „Sind Sie mit unserer Arbeitswei­se einverstan­den?“

Tschanz zögerte einen Augenblick, bevor er antwortete: „Gut, ich bin einverstan­den.“

„Was wollen Sie Tschanz?“

Der Gefragte

nun

trat zum

tun,

Fenster: „Für heute hat sich Schmied ein G angezeichn­et. Ich will nach Lamboing fahren und sehen, was ich herausfind­e. Ich fahre um sieben, zur selben Zeit, wie das Schmied auch immer getan hat, wenn er nach dem Tessenberg gefahren ist.“

Er kehrte sich wieder um und fragte höflich, aber wie zum Scherz: „Fahren Sie mit, Kommissär?“

„Ja, Tschanz, ich fahre mit“, antwortete der unerwartet.

„Gut“, sagte Tschanz etwas verwirrt, denn er hatte nicht damit gerechnet, „um sieben.“

In der Türe kehrte er sich noch einmal um: „Sie waren doch auch bei Frau Schönler, Kommissär Bärlach. Haben Sie denn dort nichts gefunden?“Der Alte antwortete nicht sogleich, sondern verschloß erst die Mappe im Schreibtis­ch und nahm dann den Schlüssel an sich.

„Nein, Tschanz“, sagte er endlich, „ich habe nichts gefunden. Sie können nun gehen.“

UViertes Kapitel

m sieben Uhr fuhr Tschanz zu Bärlach in den Altenberg, wo der Kommissär seit dreiunddre­ißig in einem Hause an der Aare wohnte. Es regnete, und der schnelle Polizeiwag­en kam in der Kurve bei der Nydeggbrüc­ke ins Gleiten.

»4. Fortsetzun­g folgt

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