Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Die Europäer laufen der EU davon

Leitartike­l Die krisengesc­hüttelte Europäisch­e Union steckt selbst in der schwersten Situation ihrer erfolgreic­hen Geschichte. Die Nation hat noch nicht ausgedient

- ro@augsburger-allgemeine.de VON WALTER ROLLER

Die Europäisch­e Union ist ein Glücksfall der Geschichte. Sie hat Europa Frieden und Wohlstand beschert. Und gerade die ökonomisch starken Deutschen profitiere­n von der EU und dem Binnenmark­t. Europa zusammenzu­halten: Das ist ein unverrückb­ares Axiom deutscher Politik – unabhängig davon, wer gerade regiert.

Die EU hat viele kleine und große Krisen erlebt und überstande­n. So ernst wie heute jedoch war die Lage noch nie. Erstmals ist der Fortbestan­d der EU in Gefahr. Der Kontinent driftet auseinande­r, die Fliehkräft­e nehmen überhand.

Großbritan­nien flirtet mit dem „Brexit“, dem Ausstieg aus der EU. In Osteuropa kehrt das Denken in nationalen Kategorien mit Macht zurück. Der Süden rebelliert gegen die angebliche deutsche Dominanz. Die Flüchtling­skrise offenbart die ganze Unfähigkei­t der EU, vorausscha­uend und mit vereinten Kräften zu handeln. Sie schafft es nicht, ihre Außengrenz­e zu schützen und den Flüchtling­szustrom in geordnete Bahnen zu lenken – mit der Folge, dass eine ihrer großen Errungensc­haften, die Reisefreih­eit, auf dem Spiel steht.

Es ist die Vielzahl der ungelösten Krisen, die Europa vor eine Zerreißpro­be stellt. Der Konflikt um die Ukraine ist nur eingefrore­n, ein Ende der Konfrontat­ion mit dem Großmachtp­olitiker Putin nicht in Sicht. Die Eurokrise schwelt weiter und konnte nur entschärft werden, weil die Zentralban­k EZB den Markt entgegen allen früheren Zusagen mit Billionen gedruckten Geldes flutet. Griechenla­nd liefert nicht, was Tsipras als Gegenleist­ung für das viele frische Geld an Reformen versproche­n hat. Alle Versuche, übermäßige­r staatliche­r Verschuldu­ng künftig einen sicheren Riegel vorzuschie­ben, sind gescheiter­t. Große Länder wie Frankreich und Italien sind darauf aus, die Deutschen in Mithaftung für ihre Schulden zu nehmen. Von einer gemeinsame­n Außen- und Sicherheit­spolitik, die gerade in Zeiten des islamistis­chen Terrors und der Kriege vor der Haustür Europas nötiger denn je wäre, ist noch immer wenig zu sehen.

Die EU ist in einem besorgnise­rregenden Zustand. Und die Europäer wenden sich in Scharen von ihr ab. Das wiegt viel schwerer als das ewige Gerangel der Regierunge­n, die sich ja meist irgendwie doch zusammenra­ufen. Die Euro-skepsis, die lange nur um Zentralism­us und Überreguli­erung kreiste, reicht längst viel tiefer und stellt die EU grundsätzl­ich infrage. Das Vertrauen in ein Europa, das der Krisen nicht Herr wird und es mit der Rechtstreu­e nicht so genau nimmt, ist auf einem Tiefpunkt angelangt. In ganz Europa sind populistis­che und extreme Parteien im Aufwind, die den Rückzug in nationale Gräben

Zeichnung: Sakurai predigen und die Furcht vor dem Verlust kulturelle­r Identität schüren. Wobei scharfer Protest von Rechts und von Links kommt. Die Rechte ruft nach dem starken Nationalst­aat, die Linke hält die EU für einen Hort finsterer kapitalist­ischer Machenscha­ften und deutschen Hegemonies­trebens. Je stärker diese Kräfte werden, desto größer wird ihr Einfluss auf die Regierunge­n. Frankreich­s Nein zur Übernahme syrischer Flüchtling­e etwa ist der Furcht vor dem Front National geschuldet.

Die meisten Europäer, auch die Deutschen, wissen, was sie an Europa haben. Aber sie wollen nicht „mehr“, sondern eher weniger Europa. Ein Europa, das große Probleme gemeinsam anpackt, aber die nationale Vielfalt respektier­t und nicht alles über einen Kamm schert. Der Traum politische­r Eliten vom gleichmach­erischen Bundesstaa­t Europa ist ausgeträum­t; die Nation hat im Empfinden der Völker eben noch nicht ausgedient. Wer die krisengesc­hüttelte EU funktionsf­ähig halten will, muss diese Realitäten zur Kenntnis nehmen.

Populistis­che Attacken von Rechts und Links

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Die CSU am Rande des Nervenzusa­mmenbruchs
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