Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Friedrich Dürrenmatt – Der Richter und sein Henker (5)
Vor ihnen in der Tiefe lag Twann und hinter ihnen Ligerz. Sie nahmen eine Kurve und fuhren nun gegen den Wald, den sie vor sich in der Nacht ahnten. Tschanz schien etwas unsicher und meinte, vielleicht gehe dieser Weg nur nach Schernelz. Als ihnen ein Mann entgegenkam, stoppte er. „Geht es hier nach Lamboing?“„Nur immer weiter und bei der weißen Häuserreihe am Waldrand rechts in den Wald hinein“, antwortete der Mann, der in einer Lederjacke steckte und seinem Hündchen pfiff, das weiß mit einem schwarzen Kopf im Scheinwerferlicht tänzelte. „Komm, Ping-ping!“Sie verließen die Weinberge und waren bald im Wald. Die Tannen schoben sich ihnen entgegen, endlose Säulen im Licht. Die Straße war schmal und schlecht, hin und wieder klatschte ein Ast gegen die Scheiben. Rechts von ihnen ging es steil hinunter. Tschanz fuhr so langsam, daß sie ein Wasser in der Tiefe rauschen hörten.
„Die Twannbachschlucht“, erklärte Tschanz. „Auf der andern Seite kommt die Straße von Twann.“
Links stiegen Felsen in die Nacht und leuchteten immer wieder weiß auf. Sonst war alles dunkel, denn es war erst Neumond gewesen. Der Weg stieg nicht mehr, und der Bach rauschte jetzt neben ihnen. Sie bogen nach links und fuhren über eine Brücke. Vor ihnen lag eine Straße. Die Straße von Twann nach Lamboing. Tschanz hielt.
Er löschte die Scheinwerfer, und sie waren in völliger Finsternis. „Was jetzt?“meinte Bärlach. „Jetzt warten wir. Es ist zwanzig vor acht.“
Fünftes Kapitel
Wie sie nun warteten und es acht Uhr wurde, aber nichts geschah, sagte Bärlach, daß es nun Zeit sei, von Tschanz zu vernehmen, was er vorhabe.
„Nichts genau Berechnetes, Kommissär. So weit bin ich im Fall Schmied nicht, und auch Sie tappen ja noch im dunkeln, wenn Sie auch einen Verdacht haben. Ich setze heute alles auf die Möglichkeit, daß es diesen Abend dort, wo Schmied am Mittwoch war, eine Gesellschaft gibt, zu der vielleicht einige gefahren kommen; denn eine Gesellschaft, bei der man heutzutage den Frack trägt, muß ziemlich groß sein. Das ist natürlich nur eine Vermutung, Kommissär Bärlach, aber Vermutungen sind nun einmal in unserem Berufe da, um ihnen nachzugehen.“
Die Untersuchung über Schmieds Aufenthalt auf dem Tessenberg durch die Polizei von Biel, Neuenstadt, Twann und Lamboing habe nichts zutage gebracht, warf der Kommissär ziemlich skeptisch in die Überlegungen seines Untergebenen ein.
Schmied sei eben einem Mörder zum Opfer gefallen, der geschickter als die Polizei von Biel und Neuenstadt sein müsse, entgegnete Tschanz.
Bärlach brummte, wie er das wissen wolle?
„Ich verdächtige niemanden“, sagte Tschanz. „Aber ich habe Respekt vor dem, der den Schmied getötet hat; insofern hier Respekt am Platz ist.“
Bärlach hörte unbeweglich zu, die Schultern etwas hochgezogen: „Und Sie wollen diesen Mann fangen, Tschanz, vor dem Sie Respekt haben?“„Ich hoffe, Kommissär.“Sie schwiegen wieder und warteten; da leuchtete der Wald von Twann her auf. Ein Scheinwerfer tauchte sie in grelles Licht. Eine Limousine fuhr an ihnen Richtung Lamboing vorbei und verschwand in der Nacht.
Tschanz setzte den Motor in Gang. Zwei weitere Automobile kamen daher, große, dunkle Wagen voller Menschen. Tschanz fuhr ihnen nach.
Der Wald hörte auf. Sie kamen an einem Restaurant vorbei, dessen Schild im Lichte einer offenen Türe stand, an Bauernhäusern, während vor ihnen das Schlußlicht des letzten Wagens leuchtete.
Sie erreichten die weite Ebene des Tessenbergs. Der Himmel war reingefegt, riesig brannten die sinkende Wega, die aufsteigende Capella, Aldebaran und die Feuerflamme des Jupiter am Himmel.
Die Straße wandte sich nach Norden, und vor ihnen zeichneten sich die dunklen Linien des Spitzbergs und des Chasserals ab, zu deren Füßen einige Lichter flackerten, die Dörfer Lamboing, Diesse und Nods.
Da bogen die Wagen vor ihnen nach links in einen Feldweg ein, und Tschanz hielt. Er drehte die Scheibe nieder, um sich hinausbeugen zu können. Im Felde draußen erkannten sie undeutlich ein Haus, von Pappeln umrahmt, dessen Eingang erleuchtet war und vor dem die Wagen hielten. Die Stimmen drangen herüber, dann ergoß sich alles ins Haus, und es wurde still. Das Licht über dem Eingang erlosch. „Sie erwarten niemand mehr“, sagte Tschanz.
Bärlach stieg aus und atmete die kalte Nachtluft. Es tat ihm wohl, und er schaute zu, wie Tschanz den Wagen über die rechte Straßenseite hinaus halb in die Matte steuerte, denn der Weg nach Lamboing war schmal. Nun stieg auch Tschanz aus und kam zum Kommissär. Sie schritten über den Feldweg auf das Haus im Felde zu. Der Boden war lehmig, und Pfützen hatten sich angesammelt, es hatte auch hier geregnet.
Dann kamen sie an eine niedere Mauer, doch war das Tor geschlossen, das sie unterbrach. Seine rostigen Eisenstangen überragten die Mauer, über die sie zum Hause blickten.
Der Garten war kahl, und zwischen den Pappeln lagen wie große Tiere die Limousinen; Lichter waren keine zu erblicken. Alles machte einen öden Eindruck. In der Dunkelheit erkannten sie mühsam, daß in der Mitte der Gittertüre ein Schild befestigt war. An einer Stelle mußte sich die Tafel gelöst haben; sie hing schräg. Tschanz ließ die Taschenlampe aufleuchten, die er vom Wagen mitgenommen hatte: auf dem Schild war ein großes G abgebildet.
Sie standen wiederum im Dunkeln. „Sehen Sie“, sagte Tschanz, „meine Vermutung war richtig. Ich habe ins Blaue geschossen und ins Schwarze getroffen.“Und dann bat er zufrieden:
„Geben Sie mir jetzt eine Zigarre, Kommissär, ich habe eine verdient.“
Bärlach bot ihm eine an. „Nun müssen wir noch wissen, was G heißt.“
„Das ist kein Problem: Gastmann.“„Wieso?“„Ich habe im Telephonbuch nachgeschaut. Es gibt nur zwei G in Lamboing.“
Bärlach lachte verblüfft, aber dann sagte er: „Kann es nicht auch das andere G sein?“
„Nein, das ist die Gendarmerie. Oder glauben Sie, daß ein Gendarm etwas mit dem Mord zu tun habe?“„Es ist alles möglich, Tschanz“, antwortete der Alte.
»6. Fortsetzung folgt