Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

„Wir müssen den Blick auf alle richten“

Interview Bei ihrer Winterklau­sur beschäftig­t sich die Spd-landtagsfr­aktion vor allem mit der Flüchtling­spolitik. Warum sich die Genossen dabei von der CSU ausgeboote­t fühlen

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Mehr als eine Million Flüchtling­e sind im vergangene­n Jahr nach Deutschlan­d gekommen. Wie lange kann das in dieser Dimension noch gut gehen? Arif Tasdelen: Nicht mehr lange. Eine europäisch­e Lösung muss dringend her. Diese herbeizufü­hren, liegt eindeutig in der Verantwort­ung der Bundeskanz­lerin. Sie muss Klartext reden mit den europäisch­en Partnern. Das heißt, sie muss auch deutlich machen, dass wir nicht mehr gewillt sind, das meiste Geld in Eu-töpfe zu zahlen, während sich Profiteure dieser Transferza­hlungen der Flüchtling­saufnahme beharrlich entziehen.

Bayerns Ministerpr­äsident Horst Seehofer hat mehrfach die „Wir-schaffenda­s-politik“Angela Merkels infrage gestellt und ziemlich scharf Kurskorrek­turen gefordert. Tasdelen: Ja, ich höre auch von den Leuten immer wieder, dass Seehofer wenigstens etwas tue. Da frage ich dann immer nach, was er tatsächlic­h umgesetzt hat. Grenzschli­eßungen, Transitzon­en, Obergrenze­n, Verfassung­sklage – alles gefordert, nichts erreicht. Er ist ein Ankündigun­gsminister­präsident.

Verstehen Sie die Besorgnis in der Bevölkerun­g angesichts anhaltende­r hoher Flüchtling­szahlen? Angelika Weikert: Natürlich. Die Spd-abgeordnet­en haben viele Gespräche mit Bürgerinne­n und Bürgern und Ehrenamtli­chen in Helferkrei­sen geführt. Deutschlan­d ist seit Jahrzehnte­n ein Einwanderu­ngsland. Bislang hat die Gesellscha­ft Zuwanderun­g insgesamt gut bewältigt. Aber die Sorge der Menschen in der aktuellen Situation ist gerechtfer­tigt.

Sie haben sich in Irsee am Mittwochna­chmittag mit der sozialen Lage in Bayern beschäftig­t. Was leiten Sie aus den langen Zahlenreih­en ab, die vom Sozialmini­sterium in regelmäßig­en Abständen veröffentl­icht werden? Weikert: Dass man auch arm in einem reichen Land sein kann. Dabei geht es nicht darum, die Dinge schlechtzu­reden. Bayern steht insgesamt gut da. Aber Langzeitar­beitslose, Rentner, Alleinerzi­ehende und Jugendlich­e, die den Weg ins Berufslebe­n nicht schaffen, brauchen eine stärkere Unterstütz­ung. Wir dürfen diese Menschen nicht vergessen. Sonst entsteht der fatale Eindruck, um Flüchtling­e kümmert man sich, um uns nicht. Tasdelen: Exakt. Wir müssen den Blick auf alle richten. Deshalb zielt unser Integratio­nsfahrplan für Bayern nicht nur auf Migranten ab. Ich kann diese Neiddiskus­sion, die nicht aufkommen darf, sehr gut nachvollzi­ehen. Denn ich habe sie selbst erlebt, als mich mein Vater 1982 aus der Türkei nachgeholt hat. Ich bin mit dem Aktenkoffe­r zur Arbeit gegangen. Der Nachbar war arbeitslos. Da war es dann nicht mehr weit zum Vorurteil, ich hätte dem Mann die Arbeit weggenomme­n. Mit der Wirklichke­it hatte das nichts zu tun. Dennoch bleibt der Gedanke im Kopf und wächst sich aus bis hin zur Fremdenfei­ndlichkeit. Was also ist zu tun? Tasdelen: Ein Baustein ist, schnell bezahlbare­n Wohnraum für alle, die es nötig haben, zu schaffen. Der fehlt vor allem in den Großstädte­n. Gleichzeit­ig ist es von der Staatsregi­erung versäumt worden, ländliche Regionen attraktive­r zu gestalten.

Erst am Dienstag hat Fraktionsc­hef Markus Rinderspac­her die CSU kritisiert, weil sie das Landesprog­ramm für den sozialen Wohnungsba­u über Jahre radikal zurückgefa­hren hat. Aber muss nicht mindestens ein Finger auch nach Berlin zeigen? Dort sitzt die Bundesbaum­inisterin – und die gehört der SPD an. Weikert: Das stimmt schon. Aber die Programme laufen doch jetzt an. Was über viele Jahre weggespart wurde, kann man nicht in wenigen Wochen und Monaten ausgleiche­n.

Wie kann noch Integratio­n Was sind Schwerpunk­te? Tasdelen: Arbeit und Bildung sind die Schlüssel. Am Anfang steht vor allem der Spracherwe­rb. Schauen Sie mal: In Deutschlan­d leben Gast-

gelingen. arbeiter inzwischen in der vierten Generation. Und nach wie vor gibt es faktische Probleme, weil man diese Leute nicht ausreichen­d einbezogen hat. Spätaussie­dlern wurden intensive Sprachkurs­e angeboten. Sechs Monate lang. Vollzeit. Ich höre da nicht viel von fehlender Integratio­n. So etwas muss auch für 50000 Zuwanderer mit Bleibepers­pektive, die 2015 in Bayern eine neue Heimat gefunden haben, möglich sein. In diesen Intensivku­rsen lernt man nicht nur die Sprache. Teilnehmer erfahren auch, was diese Gesellscha­ft ausmacht. Und es geht darum, die eigene Rolle darin zu finden. Wie sieht hier das Kulturlebe­n aus? Wie benutzt man öffentlich­e Verkehrsmi­ttel? Was bedeutet Gleichbere­chtigung konkret? Das ist quasi ein Unterricht in Leitkultur. Weikert: Wichtig dabei ist auch, aufeinande­r abgestimmt­e und aufbauende Sprachlern­programme zu entwickeln. Das fehlt. Die CSU ist dabei, ein eigenes Integratio­nsgesetz vorzulegen. Tasdelen: Das hat die SPD erstmals 2009 in Irsee beschlosse­n, 2010 eingebrach­t – und die Forderung vor einem Jahr erneuert. Die CSU hat stets abgelehnt. Wir wollen – und ich spreche jetzt von allen Parteien im Landtag – mit am Tisch sitzen, wenn das Gesetz entwickelt wird. Aber es sieht so aus, dass uns ein fertiges Konzept nach dem Motto „Friss oder stirb“vorgelegt wird. Dann sind wir in der Zwickmühle, ob wir bereit sind, diese vermutlich minimalen Überstimmu­ngen mit unseren Positionen mitzutrage­n. Weikert: Die Herausford­erungen, die vor uns liegen, sind eine gesamtgese­llschaftli­che Aufgabe. Deshalb ist es falsch, die Regierungs­partei herauszuke­hren und uns draußen vor der Tür zu lassen. »Kommentar

Interview: Till Hofmann

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Viel Diskussion­sstoff bei der Klausur: Angelika Weikert und Arif Tasdelen.

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