Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Ein Gesicht wie das andere

Anomalisa Michael lebt in einer Welt, in der das Individuel­le in Ritualen zu verschwind­en droht. Bis er auf eine Frau trifft, die aus dem Rahmen fällt. Ein grandioser Animations­film

- VON MARTIN SCHWICKERT

Alle Menschen sind gleich in diesem Film: Sie haben zwar verschiede­ne Frisuren, Kleidung, Jobs, aber ihre Gesichter und ihre Stimmen sind sich zum Verwechsel­n ähnlich. Zumindest aus der Perspektiv­e des kriselnden Geschäftsr­eisenden Michael Stone, dessen Sicht auf die Welt und ihre Bewohner sich Charlie Kaufmans neuer Film „Anomalisa“bedingungs­los zu eigen macht.

Michael reist von einer Stadt in die nächste, um Reden vor dienstleis­tungswilli­gen Menschen zu halten. In der Callcenter-szene gilt er als Guru der modernen Kundenbetr­euung. Im echten Leben ist Michael hingegen ein höchst miesepetri­ger Geselle, der mit beiden Beinen in einer Midlife-crisis steckt. Und er ist, wie alle anderen in diesem Film, eine animierte Puppe. Das Design der Figuren ist einerseits hyperreali­stisch, anderersei­ts bleibt ein Restbestan­d von Verfremdun­gseffekten, die sich bestens in den Geist der Geschichte einfügen.

Denn hier geht es um das Fremdsein im eigenen Leben, das Michael als uniform und langweilig empfindet. Auf dem Weg vom Flughafen rattert der gut gelaunte Taxifahrer die Sehenswürd­igkeiten von Cincinnati herunter. Beim Einchecken an der Rezeption des Nobelhotel­s geht freundlich­e Mitarbeite­r den ritualisie­rten Fragenkata­log durch, der das Wohlbefind­en des Gastes garantiere­n soll. Den vorgeschri­ebenen Rückmeldea­nruf bei der Familie absolviert Michael mit routiniert­er Langeweile. Auf der Suche nach Abwechslun­g ruft er eine alte Jugendlieb­e an, aber beim Treffen in der Hotelbar muss er feststelle­n, dass sie mittlerwei­le das gleiche Gesicht wie alle anderen hat.

Aber dann hört er im Hotelflur eine Stimme, die anders ist. Wie elektrisie­rt geht er dieser Stimme nach und findet Lisa, eine lebenslus- tige Frau mit einem eigenwilli­gen Gesicht und ein Fan seines Ratgeber-buchs. Michael ist fasziniert von dieser Anomalie in seinem uniformen Alltag, lädt sie zum Essen ein und verbringt die Nacht mit ihr, was zu einer der skurrilste­n Sexszenen in der Geschichte des Animations­films führt – aber auch zu einer morgendlic­hen Ernüchteru­ng.

Charlie Kaufman gehört zu den originells­ten und klügsten Köpfen des amerikanis­chen Kinos. Er verfasste die Drehbücher für den legendären „Being John Malkovich“, „Vergiss mein nicht“und „Adaptider on“, die sich durch eine unnachahml­iche Mischung aus verschlung­ener Erzählweis­e, intellektu­eller Doppelbödi­gkeit und skurrilem Humor auszeichne­ten. In „Anomalisa“hat er sich nun mit dem Stopmotion-animator Duke Johnson zusammenge­tan. Auch wenn man sich anfangs noch fragt, warum diese Geschichte nicht in Realfilm gedreht werden konnte, wächst man langsam in die eigentümli­che Ästhetik hinein, die im weiteren Verlauf des Filmes untrennbar mit der Geschichte verschmilz­t.

„Anomalisa“taucht tief ein in die neurotisch­e Befindlich­keit der modernen Dienstleis­tungsgesel­lschaft, in der der zwischenme­nschliche Umgang immer ritualisie­rtere Formen annimmt und das Individuel­le im Meer der „Corporate Identity“zu verschwind­en scheint. Dabei lässt der Film offen, ob er sich als Kritik einer uniformier­ten Gesellscha­ft versteht oder seine Hauptfigur an einer narzisstis­chen Störung leidet, die ihr alles, was sich außerhalb des eigenen Egos bewegt, gleich und bedeutungs­los erscheinen lässt. Auf jeden Fall ist „Anomalisa“, beim Festival Venedig 2015 mit dem Großen Preis der Jury ausgezeich­net worden, ein Kinoerlebn­is von nachhaltig­er Wirkung. *****

Filmstart in Augsburg

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Foto: Paramount Pict. Sie ist anders als alles sonst in dieser uniformier­ten Welt: der Geschäftsr­eisende Michael Stone und seine Hotelbekan­ntschaft Lisa Hesselman.

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