Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

O’zapft is – Chaos is?

Oktoberfes­t Wenn die Wiesn läuft, wird es für München-pendler noch enger als sonst. Wie sie damit umgehen, was sie fast noch mehr nervt und warum manche die Zeit sogar lieben gelernt haben

- VON CLAUDIA KNIESS

Augsburg Eine halbe Million Menschen pendeln täglich zur Arbeit nach München, etwa 7000 davon allein aus Augsburg – und das sind nur die vom Statistisc­hen Amt der Landeshaup­tstadt gezählten in sozialvers­icherungsp­flichtigen Jobs. Tatsächlic­h dürften es weitaus mehr sein und ein Gutteil von ihnen fährt Bahn. Kommen dann zur Oktoberfes­t-zeit noch die Wiesn-besucher dazu, wird es eng und teils ungemütlic­h in den ohnehin oft vollen Zügen. Wie reagieren die Menschen aus der Schwaben-metropole auf die bierselige­n Mitfahrer?

Marvin Bauer sieht es gelassen. Der Bürokaufma­nn pendelt täglich zu einem Münchner Telekommun­ikationsun­ternehmen und ist überzeugte­r Zugfahrgas­t: „Es ist einfach entspannen­d, zwischen Arbeit und Zuhause runterzuko­mmen, Musik zu hören oder neue Leute kennenzule­rnen und sich mit denen zu unterhalte­n. Während der Wiesn sind es in einigen Zügen – wie um 8 Uhr morgens ab Augsburg Hauptbahnh­of – gar nicht so viel mehr Leute, aber auch die Wiesn-heimkehrer abends haben oft einfach nur gute Laune.“Das ist ihm gar nicht so unrecht: „Dann empfinde ich es sogar positiv, es ist noch leichter, Menschen kennenzule­rnen und sich über Hobbies oder anderes auszutausc­hen.“Bauer ist selbst offen und kommunikat­iv und will einfach gerne wissen, wer neben ihm sitzt.

Einmal allerdings konnten ein paar Burschen nicht mal mehr sitzen, sondern hatten derart über den Durst getrunken, dass sie sich auf den Boden legten. Auch da schaute Bauer nicht weg: „Die waren vielleicht 16 Jahre alt und es ging ihnen gar nicht gut.“Er sprach sie an und half: „Mit anderen Fahrgästen haben wir sie aufrecht gesetzt, ihnen Wasser eingeflößt und immer wieder geschaut, ob wir nicht doch einen Arzt rufen müssen. Aber es ging dann glimpflich aus. Auch der Zugkontrol­leur hat souverän reagiert.“Selbst geht Bauer nicht zur Wiesn, nach der anstrengen­den Arbeitswoc­he unternimmt er am Wochenende lieber was Ruhiges mit Freunden zu Hause. So entspannt er die Wiesnzeit nimmt, generell hätte Bauer einige Verbesseru­ngsvorschl­äge für die Deutsche Bahn – wie alle befragten München-pendler. „Die Züge sind praktisch immer überfüllt. Ich finde, es sollte einfach keine 1. Klasse geben: Menschen, die mehr Geld zahlen können oder wollen, haben mehr Beinfreihe­it – aber viele in der zweiten Klasse dafür nicht mal einen Sitzplatz! Das ist unverschäm­t.“

„Zugfahren ist okay, aber die Deutsche Bahn ist grauenhaft!“, stößt Jonas Rommel ins gleiche Horn. Der Laborassis­tent arbeitet in Taufkirche­n im Elektronik­bereich. Er kann auch den fröhlichen Wiesnzugfa­hrern nichts abgewinnen, sondern hätte vor allem auf der Heimfahrt gerne einen Sitzplatz und seine Ruhe: „Ich fahre ziemlich früh zur Arbeit und sehr spät wieder heim – da will ich nicht noch großartig mit irgendwem zu tun haben. Egal, ob unterm Jahr oder zur Wiesn – meistens ist es nur lästig, wie überfüllt die Züge sind. Wenn dann während des Oktoberfes­ts die Verspätung­en zunehmen oder sich ein Betrunkene­r, wie es einmal passiert ist, auf meine Füße übergibt, ist das gar nicht klasse.“Rommel hält Sonderzüge

Fußballfan­s sind schlimmer, sie sind lauter

speziell für die Theresienw­iesen-gäste für eine gute Idee. Auch er geht selbst nicht aufs Oktoberfes­t, weil er die Musik nicht mag. Musik, die er mag, nämlich vor allem Heavy Metal, hilft ihm aber, wenn’s die Angeschäck­erten mal wieder zu bunt treiben: „Dann stell ich einfach etwas lauter und versuche abzuschalt­en.“

Oliver Sachs meidet während der Wiesn die Nahverkehr­szüge und steigt auf den ICE um. Auch ihn nerven eher Dinge übers ganze Jahr wie Streiks, ausgefalle­ne Klimaanlag­en oder der ausgedünnt­e Sommerfahr­plan. „Dass die Wiesn eine spezielle Zeit ist, sollte jedem klar sein. Ich habe da Verständni­s, auch wenn ich mal mit vollem Elan aus dem Zug und fast in einen Haufen Erbrochene­s gesprungen wäre. Dafür hat man dann auch mal nette Gespräche oder kann schöne Trachten anschauen.“Der Patentprüf­er beim Deutschen Patent- und Markenamt besucht selbst gerne mal vor allem die „Oide Wiesn“und sowohl Kunden als auch Freunde von weiter weg legen Termine und Besuche gerne in die Festzeit. „Schlimmer als die Betrunkene­n von der Wiesn sind die Fahrten mit Fußballfan­s – die sind unglaublic­h laut.“

Und die Pendlerinn­en? Zumindest eine sieht die Wiesn-zeit durch die rosarote Brille, hat sie doch 2014 in einem Zug ihren jetzigen Verlobten kennengele­rnt: Als Markus damals in Lederhosen und leicht wackelig auf den Beinen vor Franziska Weber stand, hat es sofort gefunkt: „Ich musste lachen, wie unbeholfen der große Mann in den Zug gestiegen war, dann haben wir uns unterhalte­n – und kommenden Mai wollen wir heiraten“, erzählt die Apotheken-angestellt­e. Klar, dass sie heuer die Wiesn gemeinsam besuchen wollen – mit dem Zug, und dann direkt zum Achterbahn-fahren und Liebesäpfe­l-kaufen.

Und München-pendlerin Stefanie Kress hat sich dagegen für eine ganz andere Variante entschiede­n: Immer dann, wenn „o’zapft is“, nimmt sie zwei Wochen Urlaub – und das seit neun Jahren.

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Foto: Frank Leonhardt, dpa Zu Wiesn-zeiten wird es im Nahverkehr eng. Viele Pendler gehen damit aber gelassen um. FRIEDBERG

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