Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
O’zapft is – Chaos is?
Oktoberfest Wenn die Wiesn läuft, wird es für München-pendler noch enger als sonst. Wie sie damit umgehen, was sie fast noch mehr nervt und warum manche die Zeit sogar lieben gelernt haben
Augsburg Eine halbe Million Menschen pendeln täglich zur Arbeit nach München, etwa 7000 davon allein aus Augsburg – und das sind nur die vom Statistischen Amt der Landeshauptstadt gezählten in sozialversicherungspflichtigen Jobs. Tatsächlich dürften es weitaus mehr sein und ein Gutteil von ihnen fährt Bahn. Kommen dann zur Oktoberfest-zeit noch die Wiesn-besucher dazu, wird es eng und teils ungemütlich in den ohnehin oft vollen Zügen. Wie reagieren die Menschen aus der Schwaben-metropole auf die bierseligen Mitfahrer?
Marvin Bauer sieht es gelassen. Der Bürokaufmann pendelt täglich zu einem Münchner Telekommunikationsunternehmen und ist überzeugter Zugfahrgast: „Es ist einfach entspannend, zwischen Arbeit und Zuhause runterzukommen, Musik zu hören oder neue Leute kennenzulernen und sich mit denen zu unterhalten. Während der Wiesn sind es in einigen Zügen – wie um 8 Uhr morgens ab Augsburg Hauptbahnhof – gar nicht so viel mehr Leute, aber auch die Wiesn-heimkehrer abends haben oft einfach nur gute Laune.“Das ist ihm gar nicht so unrecht: „Dann empfinde ich es sogar positiv, es ist noch leichter, Menschen kennenzulernen und sich über Hobbies oder anderes auszutauschen.“Bauer ist selbst offen und kommunikativ und will einfach gerne wissen, wer neben ihm sitzt.
Einmal allerdings konnten ein paar Burschen nicht mal mehr sitzen, sondern hatten derart über den Durst getrunken, dass sie sich auf den Boden legten. Auch da schaute Bauer nicht weg: „Die waren vielleicht 16 Jahre alt und es ging ihnen gar nicht gut.“Er sprach sie an und half: „Mit anderen Fahrgästen haben wir sie aufrecht gesetzt, ihnen Wasser eingeflößt und immer wieder geschaut, ob wir nicht doch einen Arzt rufen müssen. Aber es ging dann glimpflich aus. Auch der Zugkontrolleur hat souverän reagiert.“Selbst geht Bauer nicht zur Wiesn, nach der anstrengenden Arbeitswoche unternimmt er am Wochenende lieber was Ruhiges mit Freunden zu Hause. So entspannt er die Wiesnzeit nimmt, generell hätte Bauer einige Verbesserungsvorschläge für die Deutsche Bahn – wie alle befragten München-pendler. „Die Züge sind praktisch immer überfüllt. Ich finde, es sollte einfach keine 1. Klasse geben: Menschen, die mehr Geld zahlen können oder wollen, haben mehr Beinfreiheit – aber viele in der zweiten Klasse dafür nicht mal einen Sitzplatz! Das ist unverschämt.“
„Zugfahren ist okay, aber die Deutsche Bahn ist grauenhaft!“, stößt Jonas Rommel ins gleiche Horn. Der Laborassistent arbeitet in Taufkirchen im Elektronikbereich. Er kann auch den fröhlichen Wiesnzugfahrern nichts abgewinnen, sondern hätte vor allem auf der Heimfahrt gerne einen Sitzplatz und seine Ruhe: „Ich fahre ziemlich früh zur Arbeit und sehr spät wieder heim – da will ich nicht noch großartig mit irgendwem zu tun haben. Egal, ob unterm Jahr oder zur Wiesn – meistens ist es nur lästig, wie überfüllt die Züge sind. Wenn dann während des Oktoberfests die Verspätungen zunehmen oder sich ein Betrunkener, wie es einmal passiert ist, auf meine Füße übergibt, ist das gar nicht klasse.“Rommel hält Sonderzüge
Fußballfans sind schlimmer, sie sind lauter
speziell für die Theresienwiesen-gäste für eine gute Idee. Auch er geht selbst nicht aufs Oktoberfest, weil er die Musik nicht mag. Musik, die er mag, nämlich vor allem Heavy Metal, hilft ihm aber, wenn’s die Angeschäckerten mal wieder zu bunt treiben: „Dann stell ich einfach etwas lauter und versuche abzuschalten.“
Oliver Sachs meidet während der Wiesn die Nahverkehrszüge und steigt auf den ICE um. Auch ihn nerven eher Dinge übers ganze Jahr wie Streiks, ausgefallene Klimaanlagen oder der ausgedünnte Sommerfahrplan. „Dass die Wiesn eine spezielle Zeit ist, sollte jedem klar sein. Ich habe da Verständnis, auch wenn ich mal mit vollem Elan aus dem Zug und fast in einen Haufen Erbrochenes gesprungen wäre. Dafür hat man dann auch mal nette Gespräche oder kann schöne Trachten anschauen.“Der Patentprüfer beim Deutschen Patent- und Markenamt besucht selbst gerne mal vor allem die „Oide Wiesn“und sowohl Kunden als auch Freunde von weiter weg legen Termine und Besuche gerne in die Festzeit. „Schlimmer als die Betrunkenen von der Wiesn sind die Fahrten mit Fußballfans – die sind unglaublich laut.“
Und die Pendlerinnen? Zumindest eine sieht die Wiesn-zeit durch die rosarote Brille, hat sie doch 2014 in einem Zug ihren jetzigen Verlobten kennengelernt: Als Markus damals in Lederhosen und leicht wackelig auf den Beinen vor Franziska Weber stand, hat es sofort gefunkt: „Ich musste lachen, wie unbeholfen der große Mann in den Zug gestiegen war, dann haben wir uns unterhalten – und kommenden Mai wollen wir heiraten“, erzählt die Apotheken-angestellte. Klar, dass sie heuer die Wiesn gemeinsam besuchen wollen – mit dem Zug, und dann direkt zum Achterbahn-fahren und Liebesäpfel-kaufen.
Und München-pendlerin Stefanie Kress hat sich dagegen für eine ganz andere Variante entschieden: Immer dann, wenn „o’zapft is“, nimmt sie zwei Wochen Urlaub – und das seit neun Jahren.