Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Das Abenteuer der Zeitempfindung
Neuerscheinung Wieder einmal weitet der Schriftsteller Christoph Ransmayr den Blick auf das Leben und bringt die Welt ins Wanken. Nebenbei offenbart sein neuer Roman „Cox“ganz federleicht, was große Literatur ist
Was ist Zeit? Man kann sich über dieses Mysterium unseres Lebens schon beim alten Augustinus wundern, der schrieb: „Wenn mich niemand darüber fragt, so weiß ich es; wenn ich es aber jemandem auf seine Frage erklären möchte, so weiß ich es nicht.“Oder mit Udo Jürgens zur Titelmelodie der feinen Comic-serie „Es war einmal der Mensch“aus den späten Siebzigern singen: „Ein Augenblick, ein Stundenschlag – tausend Jahre sind ein Tag!“Zeitlos gültig jedenfalls scheint die Weisheit des Schriftstellers Curt Goetz, der sagte: „Die Zeit ist eine große Lehrerin. Schade nur, dass sie ihre Schüler umbringt.“
Um sich wieder neu und voller Neugierde aufzumachen zu dieser alten Reise zum Mysterium Zeit, gibt es wohl keinen besseren Führer als Christoph Ransmayr. Der Österreicher, Träger des Augsburger Brecht-preises 2004, ist schon privat ein unentwegt Weltreisender. Als Autor durchquert er noch dazu die Zeiten und gebiert so immer neue Zauberbücher. Mal begibt Ransmayr sich auf den Spuren einer historischen Polarexpedition in die Unfassbarkeit des Raumes wie mit Schrecken des Eises und der Finsternis“. Mal erkundet er auf den Spuren des antiken Dichters Ovid die Rätselhaftigkeit des Geistes in „Die letzte Welt“. Oder er entführt in die Erhabenheit von Natur und Liebe mit „Der fliegende Berg“, auf den Spuren einer Expedition zweier Brüder auf den verborgenen höchsten Berg der Erde. Immer sind es packende Reisen, die aber trotz vieler historischer Verweise nicht wie historische Romane
Ein britischer Uhrmacher reist zum Kaiser von China
daherkommen – sondern eher wie klassische Mythen, samt ihrer alles Menschliche umschließenden Bilderwucht.
Man kann mit diesem inzwischen 62-jährigen Hünen Christoph Ransmayr und seinem eigenwillig melodischen Ton also Abenteuer erleben und sich zugleich staunend in den ewigen Fragen des Seins verlaufen. Wer die Orte dieser Reisen längst vergessen hat, wird die Bilder, die er für die Fragen des Lebens dabei gefunden hat, nicht vergessen. Das ist Weltliteratur: Sie enthält die Welt und übersteigt sie zugleich. Indem der Autor als Schöpfer einfach deren Grundkoordinaten verschiebt und frei Motive aus der Geschichte neu kombiniert, zeigt er uns mit vollstem Mitgefühl fürs Menschliche: Hier und so sind wir – und doch könnte es ganz leicht auch anders sein. Ist das nicht ein Wunder? Und so ändern diese Zauberbücher auch den Blick aufs eigene Leben.
Nun gibt es dafür mit „Cox“ein weiteres Beispiel. „Der Lauf der Zeit“heißt das heute erscheinende Buch im erweiterten Titel und gibt damit das eigentliche Thema des Romans preis. Ransmayr nämlich ist auf den Spuren des Mysteriums Zeit und schickt den Leser dazu mit dem Uhrmacher Alister Cox vor 200 Jahren auf eine Reise zum Kaiser von China. Der Brite tritt die Odyssee überhaupt nur an, weil er nach dem tragischen Tod seiner kleinen Tochter jegliche Bindung an seine Frau und sein bisheriges Leben, weil er jeden Sinn verloren hat. Was aber will Qiánlóng, der mächtigste Mann, ein als Gott verehrter Mensch, der „Herr der zehntausend Jahre“, von ihm?
Nach Wochen des Wartens, umgeben von einer so faszinierenden wie undurchdringlichen Fremdheit, bezaubert von einer kurzen Begegnung mit einer der vielen Frauen des Kaisers, wird Cox bei einer Art Audienz dann zugeraunt: Wie schnell die Zeit vergeht! „War der berühmteste Uhrmacher und Automatenbauer des Abendlandes um die halbe Welt und dann einen künstlichen, von Millionen Sklaven in ein neues Bett gelegten Strom aufwärts bis nach Beijing gesegelt und hatte an einem Hof, der für die allermeisten Bewohner des Westens bloß ein märchenhaftes Gerücht war, einen ganzen Herbst lang auf ein Wort des Kaisers von China gewartet, um nun auf Knien vor einem leeren Thron solche Plattheiten zu hören?“Und als er das kaiserliche Raunen versteht, schließt er: „War alles tatsächlich so einfach? Der Kaiser wollte, dass Cox ihm für die fliegenden, kriechenden oder erstarrten Zeiten eines menschlichen Lebens Uhren baue, Maschinen, die gemäß dem Zeitempfinden eines Liebenden, eines Kindes, eines Verurteilten und anderer, an den Abgründen oder in den Käfigen ihrer Existenz gefangenen oder über den Wolken ihres Glücks schwebenden Menschen den Stunden- oder Tageskreis anzeigen sollten – das wechselnde Tempo der Zeit.“Das ist es.
Die Begegnung zwischen Cox und Qiánlóng hat so nie stattgefunden. Aber Ransmayr bietet die Kombination der beiden historischen Gestalten nun neben der traumwandlerischen Schilderung des Eintauchens in eine andere Welt die Möglichkeit, daraus regelrechte philosophische Maschinchen zu entwickeln: Wie muss eine Uhr be„die schaffen sein, die das Zeitgefühl eines Kindes abbildet? Cox denkt mit gebrochenem Herzen an seine Tochter – eine Uhr also wie ein Zauberschiff, das, sobald auch nur ein Hauch die Segel der Fantasie berührt, volle Fahrt aufnimmt? Wie dagegen die des zum Tode Verurteilten und die des Liebenden? Ein faszinierendes Spiel. Und doch nur Fingerübungen auf dem Weg zum eigentlichen Auftrag des Kaisers, der selbst dem Gott zum Verhängnis werden könnte…
Eine zarte Liebesgeschichte dazu sowie einige Gedanken über die Verschiedenheit der Sprache, einen tragischen Tod, einen abenteuerlichen Ritt durch Hinterland zur Chinesischen Mauer und viele feine Anekdoten – Ransmayr braucht dafür gerade mal 300 Seiten. Denn statt seine Geschichten selbst durch Bedeutung und Inhalt aufzublähen, vertraut er auf die Wirkmacht seiner Sprache und seiner Bilder, die bis hinein ins letzte Detail märchenhaft sprechend sind: „Wie eine Insel stand der Pavillon inmitten eines von vier zierlichen Holzstegen überspannten Lotosteiches, in dem in der Stunde ihrer Ankunft zwei schwarze Schwäne miteinander kämpften“– wo doch der einzelne schwarze Schwan bereits das philosophische Motiv für die größtmögliche Unwahrscheinlichkeit ist!
So ist zwischen der Deutung aller dieser Bilder und dem reinen Genuss der beglückend schön erzählten Geschichte alles möglich. Christoph Ransmayr öffnet mit dieser kleinen Geschichte eben mal wieder einen riesigen Möglichkeitsraum des Lesens und Lebens. Und die Zeit vergeht, während man aus Spannung und Vorsicht den Atem anhält, wie im Fluge. Ein Paradox? Genau. Wie wunderbar.
P.S.: Der alte Augustinus hat das Rätsel der Zeit im Rückgriff auf Platon übrigens gelöst, indem er sie als Maß der Bewegung erklärte – und in unserem Verhältnis zur Zeit erweist sich unsere Seele in ihrer Ausgedehntheit. Darüber lässt sich viel nachdenken. Mit Christoph Ransmayr lässt es sich erfahren: Zeit ist eine Frage unserer Bewegtheit. Da mag die Uhr im Gleichmaß ticken, wie sie will.
» Christoph Ransmayr: Cox – oder Der Lauf der Zeit. S. Fischer, 304 S., 22 ¤