Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Nur nicht provozieren lassen
Interview Herfried Münkler hat mit seiner Frau ein Buch über die „neuen Deutschen“geschrieben. Hier erklärt er, wie er Deutschsein definiert, warum wir Al-kaida in die Falle gegangen sind und Dresden Zentrum der Pegida-bewegung ist
Deutschland hat über Jahrzehnte Zuwanderer in großer Zahl integriert. Warum können wir in der aktuellen Ausnahmesituation dennoch nicht auf ein eingeübtes Repertoire an Integrationsmaßnahmen zurückgreifen? Herfried Münkler: Ich glaube, es gibt zwei Punkte: Bis vor zehn, fünfzehn Jahren wurden die Leute aus diesen Ländern nicht wesentlich nach ihrer Religion identifiziert und gelabelt, sondern nach ihrer ethnischen oder nationalen Herkunft, also Türken, Libanesen, Syrer, Iraker oder derlei mehr. Und aus irgendwelchen Gründen ist das verschwunden…
Münkler: Möglicherweise ist das ein Triumph von Al-kaida. Diese transnationale, wesentlich muslimische Organisation, bei der junge Männer aus allen möglichen arabischen Ländern zusammengearbeitet haben, hat sich als einheitlicher Akteur präsentiert und wir, ein bisschen naiv, sind darauf hereingefallen und haben deren Identitätsmarker religiöser Art, der ja bei uns eigentlich gar nicht mehr wirkt, übernommen.
Wir sind in die Falle gegangen? Münkler: Noch schlimmer, wir haben an dem Punkt ein Prinzip unserer eigenen liberalen Gesellschaft verlassen, nämlich das Prinzip der Individualität. Wir behandeln diese Leute in hohem Maße mit einem Kollektivbegriff wie „die Muslime“und darunter verschwinden dann die konkreten Menschen. Also wenn ich irgendwo hinkomme und die Leute würden sagen „Hey, du bist doch ein Christ!“, dann wäre ich sehr irritiert. Insofern glaube ich nicht, dass man viel weiterkommt, wenn man den Islam zum Hauptproblem erklärt. Man muss an den Sozialstrukturen ansetzen: Wie sieht das aus mit den Frauen, mit den Kindern, wo sind die Kontaktflächen zur deutschen Mehrheitsgesellschaft?
Münkler: Ja. Ich glaube, 1973 ist ein wichtiges Jahr. Vorher kamen Leute aus diesen Ländern, da waren auch Frauen dabei, aber nicht so viele, und die haben gearbeitet. Sie kamen nur hierher, wenn sie eine Arbeitsgenehmigung hatten. 1973 gab es den Anwerbestopp, und dann gab es nur noch eine Möglichkeit, Zugang nach Deutschland zu finden, nämlich über Familiennachzug. Und jetzt sind ganz viele Frauen nachgezogen – worden, weil es ja vor allem Männer waren, die in Deutschland waren. Und diese Frauen durften nicht arbeiten, sie verschwanden im Haus. Sie wurden gewissermaßen genötigt, ein Hort der Tradition und der Religion zu sein. Und die deutsche Politik hat sie in diese Rolle hineingedrängt. Während diejenigen, die gearbeitet haben, eine Art Minimalintegration am Arbeitsplatz hatten. Das war, glaube ich, der Punkt, wo man wenig aufgepasst hat und wo es allmählich so ins Kippen gekommen ist, mit dem Ergebnis, dass oftmals die zweite oder die dritte Generation schlechter integriert war als die erste, was man erklären muss.
Wenn man den offenen Hass sieht, den viele Menschen im Internet artikulieren oder bei Protesten auf die Straße tragen: Sind diese Leute integriert in die offene demokratische Gesellschaft? Münkler: Hier spreche ich nicht über diejenigen, die man mit Grund als Sorgen- oder Bedenkenträger bezeichnen kann, sondern über diejenigen, die sich jetzt am 3. Oktober in Dresden wieder einmal pöbelnd aufgeführt haben. Da muss man sagen, dass es nicht von ungefähr kommt, dass es auf Dresden konzentriert ist. ist in dieser Aggressivität ein Problem der neuen Bundesländer, die sich nie wirklich mit der deutschen Geschichte, vor allen Dingen der des Nationalsozialismus, beschäftigt haben, die den Namen Nationalsozialismus ja auch nie erwähnt haben, der hieß in der DDR immer Faschismus. Das heißt, die haben auch nie diese Schamschwelle aufgebaut. Von daher kann man sagen, die sind nicht gut in die bundesdeutsche Gesellschaft integriert.
Warum steht Dresden so besonders im Zentrum dieser Bewegungen? Münkler: Da kommt noch hinzu, in Dresden fühlen sie sich besonders berechtigt, sich derart aufzuführen aufgrund des Opfermythos: Februar ’45, Bombenangriff. Da sind sie ja nur der Sammler von etwas, was überhaupt stattgefunden hat. Dresden ist keineswegs die am meisten bombardierte Stadt, da sind andere viel, viel mehr betroffen gewesen. Aber wenn man sich einmal in die Opferrolle hineinimaginiert hat, dann glaubt man, man kann alles Mögliche machen und sagen, man hat Sonderrechte. Und das erklärt auch, warum das ausgerechnet Dresden ist.
Was heißt Integration für die Menschen, die im vergangenen Jahr zu uns gekommen sind, und von denen viele wohl bleiben werden? Münkler: Wir, also meine Frau und ich, haben fünf Kriterien, von denen wir auch sagen, das ist das Merkmal des Deutschseins. Das sind keine exkludierenden, sondern inkludierende Kriterien. Erstens: Der Anspruch, man lebt von seiner eigenen Arbeit und ist auch in der Lage, die Familie zu versorgen, und nur im äußersten Notfall ist man auf das soziale Netz angewiesen. Zweitens: Umgekehrt akzeptiert die Gesellschaft das dahingehend, dass sie diesen Leuten Aufstiegschancen einräumt, dass sie nicht, weil sie einen bestimmten Nachnamen haben oder eine bestimmte Hautfarbe, immer am unteren Ende der Gesellschaft festgehalten werden. Das wäre sonst, was man Unterschichtung der Gesellschaft durch Zuwanderung nennt. Drittens: Dass sie akzeptieren, dass Religion kein politischer Identitätsmarker ist, sondern eine Privatangelegenheit. Viertens: Dass sie akzeptieren, dass jeder sein Leben selber bestimmt, was seine sexuellen Präferenzen, die Wahl des Lebenspartners, die Wahl des Berufes und derlei mehr angeht.
Da wären aber nicht wenige Menschen plötzlich keine Deutschen mehr … Münkler: Das ist uns schon klar, das ist eine sehr weitreichende Forderung, die auch in vielen deutschen Familien häufig so nicht zutrifft, die aber zu den Grundsätzen einer offenen Gesellschaft dazugehört. Und fünftens: Dass die einschlägigen Artikel des Grundgesetzes akzeptiert werden, damit sind vor allem die ersten 20 Artikel gemeint. Diese Form der Integration ist nötig für ein gedeihliches Zusammenleben auf lange Zeit.
Welche Möglichkeiten hat der liberale Staat, mangelnde Integrationsbereitschaft zu sanktionieren? Münkler: Meine Frau und ich, wir sind beide der Auffassung, Sanktionen ganz klein zu schreiben. Gratifikationen schreiben wir groß, weil das Anreizsysteme sind, die zu einer Marktwirtschaft passen. Sanktionen sind schwierig: Wenn man sie wirkdas lich durchsetzen will, wird es teuer. Und zweitens führen sie eigentlich nur dazu, dass es demonstrative Formen der Distanzierung gibt. Wenn die Franzosen Frauen, die im Burkini baden gehen, öffentlich nötigen, dieses Teil abzulegen, ist das letzten Endes eine Selbstentwürdigung der Französischen Republik.
Warum? Münkler: Abgesehen davon, dass es für die Frauen, die das betrifft, ein schwieriger Akt ist: Die Strafe bezahlt dann irgendein reicher marokkanischstämmiger Geschäftsmann in Frankreich. Sodass man da gar nichts gewonnen hat und nur einlädt, mit einer systematischen Provokationsstrategie ein Problem zu eskalieren. Man muss aufpassen, dass man nicht der anderen Seite das Gefühl gibt, sie werde ausgegrenzt. Es gibt Symbole der Ausgrenzung, die dann von den Betroffenen positiv besetzt werden und zum Ausdruck ihrer eigenen Reinheitsideologie werden. So spielt man letzten Endes das Spiel der Islamisten, möglicherweise sogar der Dschihadisten. Das sind hochsensible Felder, in denen man mit Symbolpolitik mehr kaputt macht, als man gutmacht. Man muss strategisch denken und sich darüber im Klaren sein, dass wir es mit Prozessen zu tun haben, die sich über lange Zeit hinziehen.
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Wissenschaftler und Stichwortgeber
Art der Herfried Münkler, 1951 im hessischen Friedberg geboren, lehrt Politikwissenschaft in Berlin. Er zählt zu den einflussreichsten deutschen Intellektuellen, ist Stichwortgeber in zahlreichen Debatten. Zusammen mit seiner Frau Marina Münkler hat er sein aktuelles Buch verfasst: Die neuen Deutschen: Ein Land vor seiner Zukunft (Rowohlt Berlin, 336 S., 19,95 ¤). (AZ; Foto: dpa) aktuellen Situation sein. muss die Migrationskrise anders gelöst werden. Münkler: Das ist völlig klar. Wir müssen die Situation wieder entzerren. Erstens, indem wir eine regelmäßige Zuwanderung organisieren, aber nach unseren Vorstellungen und Bedürfnissen, so wie das Kanada etwa tut. Die Leute, die von diesen Dingen etwas verstehen, sagen, eigentlich braucht Deutschland pro Jahr eine Zuwanderung von einer halben Million Menschen, um das zu bleiben, was es ist. Das sind die Pull-faktoren. Die Push-faktoren sind: Wenn die Lage in Syrien jetzt wieder schlechter wird, dann sind nicht die Leute in Aleppo das Problem, sondern die in den Lagern in Jordanien, im Libanon, in der Türkei, die dann sagen: „Die ganze Zeit haben wir geglaubt, wir könnten wieder zurück. Aber das wird wohl nichts werden…“Da können also neue Ströme entstehen, und das gilt natürlich auch für die gegenüberliegende Mittelmeerküste und die hinter der Sahara kommende Sahelzone, von Mali bis Somalia. Langfristig aber wohl
Was können wir tun, damit diese Leute nicht alle nach Europa wollen? Münkler: Das sind Räume in die wir, damit meine ich jetzt Europa, nicht Deutschland alleine, investieren müssen im Sinne der Herstellung von Stabilität und vor allen Dingen der mittelfristigen Herstellung einer größeren Prosperität. Das heißt, wir Europäer brauchen einen Masterplan zur Stabilisierung unserer Südperipherie und der Südostflanke. Und den haben wir nicht. Wir haben erst seit kurzem das Problem überhaupt auf dem Bildschirm. Aber daran müssen wir arbeiten, wenn wir nicht sehr, sehr unangenehme Überraschungen – irgendeine andere Balkanroute nämlich – erleben und gleichzeitig vermeiden wollen, dass wir diese schrecklichen Bilder und die schreckliche Situation des Ertrinkens von Tausenden im Mittelmeer haben.