Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Wochenend Journal
Fortsetzung von Seite V1 wie 1917 feierte man den stand1817haften
Heroen, geziert mit dem markigen Spruch: „Gottes Wort und Luthers Lehr’ / vergehen nun und nimmer mehr“. Bad Schandau in der Sächsischen Schweiz darf sich rühmen, das erste Luther-denkmal zu besitzen – für alle Ewigkeit eingemeißelt in den Elbsandsteinfelsen. Viele Standbilder in Bronze folgten in Deutschland. Der Reformator wurde gerühmt als Stifter des nationalen Bewusstseins, trotzig bewiesen gegen päpstliche Anmaßungen.
Hat er nicht mit seiner Bibelübersetzung den Deutschen eine Sprache geschenkt, die alle verstanden? Und unverwüstliche geflügelte Worte und Redewendungen geprägt? Mit Feuereifer und Herzenslust riskierte er eine dicke Lippe, um mit Sack und Pack aus dem Machtbereich Roms auszuwandern. Sogar Rapper und Poetry-slammer können den alten Luther als ihren Ahnherrn betrachten, so hämmerte sich sein flüssiger Sprachstil ins Gedächtnis.
Nichts schuldig bliebe der Reformator den Heckenschützen aus dem Dickicht der Web-gemeinde. Auch er war ein derber Haudrauf, dem wider den Antichrist zu Rom keine Schmähung zu grob klang. Und der Unflätiges einstecken musste. Halt mit dem Unterschied, dass der Wittenberger Widerständler mit offenem Visier kämpfte. Immerhin hatte Luther einen mächtigen Schutzherren, der ihn, den in Acht und Bann geschlagenen Vogelfreien, zum Schein entführen ließ, um ihm auf der Wartburg eine neue Identität („Junker Jörg“) zu verleihen – Whistleblower Edward Snowden im Moskauer Exil lässt grüßen.
Mit der Reformation wurde das Heilige Römische Reich Deutscher Nation ein für allemal zu einer pluralen Gesellschaft, die mit einer Vielfalt von Weltanschauungen und Religionen zurechtkommen musste. Mochte sich Kaiser Karl V. zunächst an die Hoffnung klammern, die Abweichler wieder zum rechten Glauben zurückzuführen, musste er mit der Übergabe des Augsburger Bekenntnisses auf dem Reichstag von 1530 die andere Konfession zur Kenntnis und mit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 reichsrechtlich als neues Kirchentum hinnehmen. Sogar mit militärischer Gewalt brachte man es nicht
„So kann und will ich nichts widerrufen.“
zum Schweigen, während die linksorientierten Täufer („Schwärmer“) mit Zustimmung Luthers noch über die Klinge springen mussten.
Die Reformation bewirkte auf längere Sicht eine spürbare Modernisierung der Gesellschaft. Sie ging einher mit der Entthronung der Kleriker. Ihnen schrieb Luther ins Stammbuch: Eure Priesterweihe macht euch nicht zu besonderen Menschen und schon gar nicht zu unberührbaren Heiligen. Auch die Möncherei, die Luther nach seinen Grübeleien als knechtisches Missverständnis überführte, sich selbst von den Sünden zu erlösen, schaltete die Reformation aus. Das somit entstehende Machtvakuum ergriff die Bürgerschaft, um sich selbst zu organisieren. Der Rat der Freien Reichsstadt Augsburg erließ 1534 eine Kirchenordnung, er wählte künftig die Prediger aus.
Das Schulwesen und die Sozialfürsorge wurden bürgerliche Angelegenheit. Anstatt weiterhin das Betteln um milde Gaben zu dulden, dass die Armen zu ihrem Lebensunterhalt kämen, gründeten die reformatorisch gesinnten Bürger Arbeitsund Waisenhäuser. Dabei erfanden sie – typisch evangelisch – die Unterscheidung nach verschuldeter und unverschuldeter Armut. Oder modern gesprochen die Formel vom Fordern und Fördern.
Fleißig sein hieß die neue bürgerliche Tugend, der Müßiggang eines beschaulichen Lebens geriet in Verruf. Die Reformation schaffte eine Fülle von althergebrachten Feiertagen zu Heiligenfesten ab. In einer Stadt wie Augsburg arbeiteten die Evangelischen etwa 50 Tage im Jahr mehr als die Katholiken. Das ließ protestantische Unternehmen wirtschaftlich prosperieren.
Allerdings verteufelte Luther das Zinsnehmen, den „Wucher“, der freilich eine Lebensader des aufkommenden Frühkapitalismus war. Er begriff nicht, wie es gehen sollte, aus 100 Gulden in einem Jahr 20 weitere zu erwerben. Für Luther wäre es gottgefälliger, sein Geld mit mehr Ackerbau und weniger Kaufmannschaft zu verdienen. Bei dem Ingolstädter Luthergegner Johannes Eck konnten Handelshäuser wie die Fugger auf mehr Verständnis für ihre Wirtschaftsweise bauen.
Schon in seiner Programmschrift „An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung“von 1521 hatte Luther das dürftige deutsche Bildungswesen kritisiert. Es brauche für die Jugend überall Elementarschulen – auch für die Mädchen, wo die Heilige Schrift als Lebensregel an erster Stelle unterrichtet werde. „Sollte nicht angemessenerweise ein jeder Christenmensch mit neun oder zehn Jahren das ganze heilige Evangelium kennen (...)?“Katechismen und Lieder spornten zusätzlich zum Lesen und Lernen an. So hat die Reformation laut dem Tübinger Historiker Thomas Kaufmann das eigenständige Denken und die Urteilsbildung der Bevölkerung gefördert.
Nicht zuletzt gab Luther, der entsprungene Mönch, ein neues Leitbild von Häuslichkeit ab. Mit seiner ebenfalls klostererfahrenen Katharina von Bora („Herr Käthe“) gründete er nicht nur eine glückliche Familie, sondern führte in Wittenberg auch ein gastliches Haus, wo bei Tisch über sämtliche Zeitläufte freiweg geplaudert wurde – das Urbild des legendären evangelischen Pfarrhauses. Auch wenn Luther 1517 noch nicht im Sinn hatte, die Gesellschaft seiner Zeit grundlegend zu verändern, so verlieh die Reformation relativ rasch nicht nur der religiös-kirchlichen Sphäre, sondern auch dem politisch-sozialen Bereich neue Konturen. Phänomenal konnte sich dieser Mann zu allen Lebensbereichen gleichermaßen sachkundig äußern – was seine Gesamtausgabe auf über 100 Bände anschwellen ließ.
Mit einem allerdings blieb Martin Luther fest im Mittelalter verwurzelt, nämlich mit seiner tief sitzenden Angst vor Teufel und Hölle. Der Gottseibeiuns saß ihm ständig im Nacken, vor seinen Nachstellungen musste Luther auf der Hut sein – im Augustinerkloster zu Erfurt ebenso wie später auf der Wartburg, als der „alt böse Feind“die legendäre Zielscheibe seines Tintenfasses wurde. Für Luther war die Welt voll Teufel, denen er trotzig sein Bekenntnislied „Ein feste Burg ist unser Gott“entgegenwarf. Es ist die Hymne der Reformation bis heute, auch wenn der Teufel inzwischen ein armer Hund geworden ist.