Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Im Rübenwinter verhungern in Deutschland wieder Kinder
Amtliche Tagesration für einen Erwachsenen in Berlin 270 g Brot 35 g Fleisch einschließlich Knochen 25 g Zucker 11 g Butter 1 Ei (alle 14 Tage)
Es ist Herbst 1916, es naht bereits der dritte Kriegswinter. Der Frontverlauf im Westen ist weiterhin relativ unverändert – und weit weg vom Reichsgebiet. Dennoch spitzt sich die Lage auch in der Heimat zu. Schuld ist nicht zuletzt das von den Briten durchgesetzte Embargo zur See. Die Vorräte sind längst aufgebraucht, das Land lebt buchstäblich von der Hand in den Mund. Aus Obstkernen wird Öl gepresst, in das Mehl für Brot kommt Mehl, Milch wird mit Wasser gestreckt. Die Brauer klagen über ständig sinkende Malzkontingente und die Metzger in Berlin bieten ab Mitte November eine sogenannte Einheitswust an, die mit Semmelmehl fülliger gemacht wird. Wer genügend Geld hat, bekommt auf dem Schwarzmarkt noch Besseres zu kaufen. Doch das Schlimmste kommt ja auch erst noch.
Die Kindersterblichkeit, besonders in den Ballungsräumen, ist im Laufe des Jahres ständig angestiegen. Rachitis, Tuberkulose und Blutarmut fordern immer mehr Opfer. Bis zum Ende des Krieges sterben allein im Reich rund 750000 Menschen an Unterernährung oder deren Folgen. Der Winter 1916/17 wird später den Namen „Steckrübenwinter“bekommen – und auf lange Zeit im kollektiven Gedächtnis verankert bleiben. An regelmäßige Fleisch- und Fischmahlzeiten ist längst nicht mehr zu denken. Aber nachdem nun auch die Kartoffelernte schlecht ausgefallen ist, bleibt als Hauptnahrungsmittel nur noch die Steckrübe: Rübenbrei, süße Rübenspeise, gebackene Rüben…
Die sozialen Folgen der Hungersnot bleiben nicht aus. Im Frühjahr 1917 werden die Forderungen nach politischen Reformen immer lauter.