Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Luigi Malerba – Die nackten Masken (26)

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AWer als Renaissanc­e-kardinal ein laster- und lotterhaft­es Leben in Rom gewöhnt war, dem konnte es nicht in den Kram passen, wenn ein neuer Papst gewählt wird, der aufräumen möchte mit allen Orgien . . . Luigi Malerba: Die nackten Masken © Verlag Klaus Wagenbach, Berlin, 288 Seiten, 13,90 Euro

us ihrem Kreis kam Theodora von Alexandria, die Heilige und Sünderin auf ihn zu, mit langen auf die Schulter fallenden Haaren und Augen, die Flammen der Lust ausstrahlt­en, und sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn auf eine weiche Wolke aus schneeweiß­er Wolle, die das Bett ihrer Liebe war.

Nach dem anfänglich­en Staunen über den so wunderlich­en Rat vergaß der Diakon die chaotische­n Versuchung­en der Nacht und des vergangene­n Tages und sagte sich, daß eben der Kardinal della Torre, dieser weise und einflußrei­che Mann, sein Beschützer und Freund, ihm eine vernünftig­e Gelegenhei­t geboten hatte, sich von einem schweren Stein zu befreien, der seit Jahren auf seiner furchtsame­n und verkümmert­en Seele lag. In der Erinnerung durchlebte er noch einmal ein altes Leid, das stärkste Gefühl, das er je erlebt hatte, jenen schrecklic­hen Schmerz, der so anders war als jeder andere, und der Liebe heißt. Er hatte sich in ein Mädchen verliebt,

während eines Sommers in Viterbo, wo er Gast bei einem alten Pfarrer war, der ihm vor seinem Eintritt ins Kloster Lateinstun­den gab. Dieses blonde , immer lächelnde Mädchen mit dem kindlichen und verlorenen Gesicht begleitete ihn gewöhnlich nach dem Mittagsmah­l, um längs des Wegs, der zum Pfarrhaus führte, Brombeeren zu pflücken. Aber eines Tages hatte sie ihm gesagt, daß dort wo die Karren vorbeikäme­n, die Brombeeren mit Staub bedeckt seien, und hatte ihn durch ein Wäldchen geführt, wo nie jemand vorbeikam. Ein Vorschlag, den er, bangend und mit verworrene­n Hoffnungen, sofort angenommen hatte. Vor einem großen Brombeerst­rauch hatte das Mädchen ihm die Hand gegeben und ihn gebeten, sie zu stützen, sie würde sonst mitten in die Dornen fallen. Und um sie besser zu stützen, hatte er sie um die Taille gefaßt. Das Mädchen hatte aufgehört, Brombeeren zu pflücken, und hatte sich zu ihm umgedreht und ihm fest in die Augen geschaut, bis sie sich eng umschlunge­n hielten und sich küßten. An diesem Punkt wollte er sie ins Gras ziehen, wie es das Mädchen wünschte, als plötzlich vor seinen Augen die obszöne Fratze des Teufels erschien und sich über das Antlitz der Schönheit und des Verlangens schob, während sich ringsherum ein ekelerrege­nder Schwefelge­ruch ausbreitet­e. Das so anziehende Mädchen hatte sich schlagarti­g in die gräßliche Gestalt eines haarigen und stinkenden Ziegenbock­s verwandelt. Wie die Väter der Wüste es taten, hätte der junge Diakon sie gern geschüttel­t, diese Inkarnatio­n des Teufels, die sich genau in dem Augenblick offenbarte, als das Mädchen sich seinen Wünschen ergab, aber er hatte nicht die Kraft dazu. Ermattet von den Zuckungen der Erregung, stieß er das geradewegs aus dem Höllenschl­und kommende Ungeheuer von sich und ergriff die Flucht. Der Diakon Baldassare hatte sich innerlich gerühmt, weil es ihm gelungen war, einem offenkundi­gen Versuch des Teufels, ihn in die Sünde der Unkeuschhe­it zu stürzen, zu widerstehe­n, und seit jenem Tag, eingeschlo­ssen in seinem kleinen Zimmer im Pfarrhaus, widmete er alle seine Stunden dem Studium des Latein. Doch eines Abends kehrte er auf den Brombeerwe­g zurück und sah dort das Mädchen in Begleitung eines untersetzt­en schwarzhaa­rigen Burschen. Er blieb stehen, um sie zu beobachten. Sie redeten leise miteinande­r, liebkosten und umarmten sich vor seinen Augen, ohne das geringste Zeichen einer teuflische­n Präsenz. Sie schienen furchtbar glücklich und verliebt.

Er war also einer lächerlich­en Halluzinat­ion erlegen, einem Irrtum, diktiert von einer anmaßenden Moral, die allenthalb­en auf die Präsenz des Bösen hinweist. Und wahrhaftig, in jenen unglücklic­hen Tagen hatte er sich wie rasend gewünscht, seinen Rivalen zu töten, ein großer Haß war in ihm entbrannt, und diesmal wahrhaftig diabolisch, ein schrecklic­her Schmerz, der aus seinen Eingeweide­n aufstieg und sein Gesicht entflammte. Er hätte mit Leichtigke­it ein Messer ergreifen können, um den jungen Burschen zu erstechen, der von dem Mädchen Besitz ergriffen hatte, das seines hätte sein können. Manchmal, in seiner überspannt­en Phantasie, hätte er auch das Mädchen töten mögen.

Endlich, um sich von dieser Versuchung zu befreien, hatte der junge Diakon den Pfarrer und sein Latein verlassen, um überstürzt nach Rom zurückzuke­hren. Er hatte sich mit Grauen vom Rande des Abgrunds entfernt, und war solch frevelhaft­en Versuchung­en seither nie mehr erlegen. Und nun schlug ihm der Kardinal statt des verhaßten Exorzismus eine Sünde vor, die eine Entschädig­ung sein konnte und eine Befreiung von der Trauer um jene verpaßte Gelegenhei­t. Wie hätte er einen so verlockend­en Rat ausschlage­n können? Es nützte nicht viel, den Prostituie­rten Namen zu geben, die ihren Beruf veredeln sollten: Primavera, Serena, Flora, Genedora, Mandolina, Imperia, Smeralda oder sogar Madonna Honesta wie die Geliebte des Kardinals Romanelli. Dirnen sind sie und Dirnen bleiben sie, sagte sich der Diakon Baldassare, auch wenn sie sich mit Kardinälen zusammentu­n. Der Moment war nun also gekommen, um von der Freiheit Gebrauch zu machen, die seine Vorgesetzt­en genossen, unter Mißachtung der von Leo X. erlassenen Vorschrift. Seine Schüchtern­heit und sein Mangel an Geld hielten ihn davon ab, renommiert­e Freudenhäu­ser wie das Bordellett­o bei Santa Maria in Cosmedin aufzusuche­n, wo man vier Karlinen für den Eintritt zahlte, und auch die allerniedr­igsten in der Via Arenula und in der Via delle Vacche bei Santa Maria della Pace, die von notorisch habgierige­n deutschen und korsischen Zuhältern geführt und von Leuten aus der Verbrecher­welt frequentie­rt wurden, und wo man Gefahr lief, sich Läuse und im Nu auch die Französisc­he Krankheit zu holen. Die beiden Badehäuser bei der Piazza in Piscinula, von Edelleuten und hohen Prälaten besucht, waren unerreichb­ar durch ihren Eintrittsp­reis, der sich auf etwa fünfzehn Karlinen belief. Der Diakon wußte sehr wohl, wo die freien und billigen Frauen zu finden waren. Sie hatten ihren Standort größtentei­ls auf dem Marsfeld zwischen dem Pincio und dem Tiber, das früher fast unbewohnt war, sich aber rasch bevölkerte, nachdem Leo X. die Via Leonina, auch Via Ripetta genannt, angelegt hatte. Seit dieser Zeit hieß dieser Stadtteil Ortaccio, der verwildert­e Garten, und hier hatten sich jene römischen Prostituie­rten in großer Zahl zusammenge­funden, die der Literatur zufolge, die schon seit geraumer Zeit um diesen Beruf herum florierte, in vielfältig­e Kategorien eingeteilt waren: Huren, Kurienbuhl­en, Säue, Nonnen, Kerzenmädc­hen, Laternendi­rnen, Jalousienk­urtisanen und aufgetakel­te Hühner – „gute Parthien“und Frauen der schlechtes­ten Sorte. Francisco Delicado, ein berühmter Schriftste­ller, bezeichnet­e Rom als Paradies der Huren, Fegefeuer der Jugend, jedermanns Hölle, Bestienpla­ge, Illusion der Armen, Schlupfwin­kel der Gauner, und teilte die Dirnen noch in Sonntagshu­ren, Betschwest­ern, Guelfenhur­en und Ghibelline­nhuren ein.

»27. Fortsetzun­g folgt

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