Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Schmeckt uns das Kochen nicht mehr?
Ernährung Nur 39 Prozent der Deutschen stellen sich täglich an den Herd. Warum wir immer seltener zu Bratpfanne und Gemüsehobel greifen und trotzdem immer mehr Kochbücher verkauft werden
Wertingen Das blaue Buch erzählt Geschichten von früher. Von fetten, knusprigen Braten und deftigen Leberknödeln in heißem Fleischsud. „Bayerisches Kochbuch“steht darauf in schnörkeliger Schrift. Es liegt in der Küche der Hauswirtschaftsschule in Wertingen. Hier soll an dieses Früher angeknüpft werden. An die Zeit, als das Kochen noch mehr zum Leben gehörte. Denn angeblich entfernen sich die Deutschen immer weiter von den heimischen Herdplatten, immer seltener wird zu Hause gekocht. Zu diesem Ergebnis kommt jedenfalls der Ernährungsreport des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft, der gerade vorgestellt wurde. Demnach sagen nur noch 39 Prozent der Befragten, sie stünden täglich am Herd. 2015 waren es 41 Prozent. Noch deutlicher ist der Rückgang bei denen, die nur zwei- bis dreimal die Woche zu Hause kochen. 2015 waren es 37 Prozent, jetzt sind es 33. Aber kann das wirklich sein? Die Fenster in der Wertinger Schulküche sind vom Dampf, der aus den Töpfen und Pfannen aufsteigt, ein wenig angelaufen. Ein erdiger Kartoffelduft wabert durch den Raum. Er vermengt sich mit dem Geruch von heißem Fett. Müde dringt die Wintersonne durch die Glasscheiben in die Küche, in der acht Schülerinnen Karotten schneiden, Eier pellen, Salat waschen und Schinken würfeln. Kochen wird an diesem Ort gelebt. Und doch spürt man auch hier einen Wandel.
„Viel Wissen ist in den vergangenen Jahren verloren gegangen“, sagt Monika Weber, eine zierliche Frau mit dunkler Brille und langen braunen Haaren, die sie zu einem Zopf gebunden hat. Sie steht inmitten ihrer Schülerinnen, hilft beim Anrühren von Mayonnaise oder zeigt, wie man aus geschmolzenem Gouda eine Käse-schinken-rolle hinbekommt. Monika Weber wischt die Hände an ihrer weißen Schürze ab und sagt: „Das Wissen stirbt mit den Großeltern. Einen Braten macht heute fast niemand mehr.“
Seit 25 Jahren lehrt Weber, wie man ein Steak brät oder selbst Müsliriegel backt. Im Vergleich zu früher habe das Wissensniveau der Schüler abgenommen, sagt sie. Damals habe man auf gewisse Fertig- keiten zurückgreifen können. „Aber heute lernt man Kochen nicht mehr selbstverständlich zu Hause. Bei den Jüngeren fehlt das Interesse.“Und die Zeit. „Das Essen muss nebenbei ablaufen“, sagt sie. „Man möchte sich nicht mehr stundenlang in die Küche stellen.“
Ist es also tatsächlich so, dass die Kochunlust immer mehr um sich greift? So recht möchte man den Zahlen des Ernährungsreports nicht glauben. Die Deutschen – Kochmuffel? Schaltet man den Fernseher
„Das Wissen stirbt mit den Großeltern. Einen Braten macht heute niemand mehr.“
ein, scheint es, als wäre das Land der Dichter und Denker vielmehr das Land der Brutzler und Flambierer. Hobbyköche zeigen, wie sie ein Zanderfilet in der Spülmaschine garen oder ein Schokoladen-soufflé mit zart schmelzendem Kern kreieren. Alfons Schubeck wird nicht müde zu erklären, warum Ingwer und Vanille wahre Tausendsassazutaten sind, und Woche für Woche retten Sterneköche schmuddelige Hinterhofkombüsen vor dem Ruin.
Hinzu kommen Berge von Kochbüchern, die uns die Welt der veganen Küche, Low-carb-trends und Paleo-diäten, die Zubereitung von deutscher Hausmannskost oder die Gewürzgeheimnisse indischer Currys erklären. Der Umsatz auf dem Kochbuchmarkt stieg zuletzt zweistellig. In der Ratgebersparte wird zu keinem Buch so oft gegriffen wie zum Kochbuch. Nur warum, wenn sich doch rund 60 Prozent der Deutschen nicht die Mühe machen, täglich zu kochen?
Kochbücher seien mittlerweile ein Lifestyle-produkt, sagt Erwin Seitz. Er ist Autor, Gastrokritiker und Dozent an der Hochschule Heilbronn. „Die Menschen lassen sich von Kochbüchern unterhalten. Aber das, was drin steht, muss man noch lange nicht nachkochen.“Deswegen glaubt Seitz auch, dass die Zahlen des Ernährungsreports in Wirklichkeit noch schlechter ausfallen, dass noch weniger Menschen täglich in der Küche stehen. „Man schämt sich, viele wollen nicht zugeben, dass sie nicht kochen.“Und auch, wenn heute noch viele Men- schen jungen hippen Tv-köchen zusehen, wie sie Kartoffeln stampfen oder eine Entenbrust anbraten, werde sich das Interesse an Kochshows mit der Zeit abnutzen, glaubt Seitz. „Man dachte auch, dass das mit den Talkshows immer weitergeht. Aber wer redet heute noch von Schreinemakers?“
In der Schulküche ist es warm geworden. Regina Schweihofer gießt gekochte Karotten in ein Sieb, schmeckt gegarte Nudeln mit Salz, Pfeffer und Essig ab, schiebt sich ihr blau-weiß gepunktetes Kopftuch ein wenig aus der Stirn. Noch ist Kochen für die 28-Jährige Neuland. Bisher, erzählt sie, habe zu Hause immer die Mutter am Herd gestanden. Weil sie aber selbst Mama einer kleinen Tochter geworden ist, möchte sie nun lernen, wie sie für ihre Familie gesundes Essen zubereiten kann. „Mit Kindern kommt man zum Kochen“, sagt die junge Frau, die eigentlich Landwirtin ist. Dann vermengt sie die Nudeln mit selbst gemachter Mayonnaise und Gemüse und rührt mit einem großen Löffel die cremige Masse um. Regina Schweihofer ist es wichtig, frisch zu kochen. „Fertiggerichte gibt es bei uns nicht“, sagt sie. Damit liegt die 28-Jährige nicht gerade im Trend. Nach den Ergebnissen des Ernährungsreports greifen 60 Prozent der 19- bis 29-Jährigen gerne mal zu Fertiggerichten, am liebsten zur Tiefkühlpizza. In allen Altersgruppen sind es 41 Prozent, neun Prozentpunkte mehr als 2015.
Seitz, der das Fach „Kulturgeschichte der Ernährung und Gastlichkeit“unterrichtet, geht nur sehr ungern in Supermärkte. Es frustriert ihn, zu sehen, dass viele Menschen Fertigprodukte und Tiefkühlgerichte in den Einkaufswagen packen, zu Konserven statt zu frischem Obst und Gemüse greifen. In Zeiten, in denen der Arbeitsstress immer mehr zunimmt, lebten die Menschen oft gegen ihren Willen, findet Seitz. Statt eines gesunden Abendessens gibt es dann eben eine Lasagne aus der Mikrowelle. Das Interesse an einem guten Leben, an gesundem Essen und an Genuss sei noch immer da – vielen Menschen gelinge es angesichts des enormen Zeitdrucks aber nicht mehr, diese Wünsche umzusetzen.
Auch der Ernährungsreport zeigt, dass den Deutschen oft die
„Die derzeitige Richtung mit Fast Food und Tiefkühlkost ist ein momentaner Irrweg.“
Zeit zum Kochen fehlt. Mehr als die Hälfte der Befragten legt Wert auf eine schnelle und einfache Zubereitung. Bei den 19- bis 29-Jährigen sind es sogar mehr als 70 Prozent. Aus Zeitgründen aufs Kochen zu verzichten sei nicht nötig, sagt Seitz. „Es ist alles machbar. 30 Minuten kann man sich am Abend Zeit nehmen.“In dieser halben Stunde könne man etwa ein Risotto aus Einkorn kochen, einer uralten Getreidesorte, die hierzulande schon vor 7000 Jahren angebaut wurde. Das Gericht wird nur mit Wasser, nicht mit Brühe angerührt. Dazu ein wenig Butter und würziger Allgäuer Bergkäse, eine Haube aus Buttermilch und ein Lachsfilet, das zehn Minuten sanft gegart wird. „Man muss sich von den gedanklichen Schranken lösen, dass Kochen unglaublich aufwendig ist“, sagt Seitz.
Dieses Image ist selbst verschuldet. Immer technologisierter, avantgardistischer ist die Küche geworden, man wollte Schritt halten mit der hochmedialen Zeit. Und während in der Molekularküche Sellerieknollen in einen anderen Aggregatzustand überführt und Rezepte veröffentlicht wurden, deren Zubereitung nicht nur eine ganze Armada an Küchengeräten, sondern auch noch ein paar Tage Urlaub verlangten, griffen viele Menschen entnervt zur Tütensuppe. Nun entdeckt die Küche langsam wieder ihre Natürlichkeit und Einfachheit.
Und Seitz ist sich sicher: „Kochen wird wieder für die breite Masse interessant sein.“Denn der Mensch suche stetig nach der Verbesserung seiner Lebensumstände. „Die derzeitige Richtung mit Fast Food und Tiefkühlkost ist nur ein momentaner Irrweg. Es steckt tief in uns Menschen, am Feuer zu sitzen und Fleischspieße zu braten. Auf diese Sehnsucht kann man sich verlassen. Und deswegen werden wir auch weiterhin den Topf auf den eigenen Herd stellen.“Denn schließlich ernähre man nicht nur den Bauch, sondern auch die Seele. So sieht er das jedenfalls.
In den polierten Edelstahlfronten in der Küche der Wertinger Hauswirtschaftsschule spiegelt sich das weiche Vormittagslicht. Im Hintergrund röhrt eine Küchenmaschine. Putenfleischstücke werden mit Oliven und Kartoffeln vermengt und feine Lachshappen in einen weichen Teigmantel gehüllt. Marlies Fischer püriert ihre Avocado-creme. Zum ersten Mal verarbeitet sie heute die exotische Frucht. 25 Jahre lang war sie selbstständig, hatte eine eigene Metzgerei. Nun ist das Geschäft verpachtet und die 53-Jährige ist Hausfrau. „Jetzt wollte ich richtig kochen lernen. Deswegen gehe ich in die Hauswirtschaftsschule“, sagt sie, holt einen Teelöffel aus der Schublade und kostet die grüne Masse in der Rührschüssel. Eine Prise Salz fehlt noch. Dann legt sie den Löffel beiseite und beginnt, die Creme auf dünne Brotscheiben zu streichen. Auch wenn sie selbst gerne kocht, kann sie verstehen, dass sich heute immer weniger Menschen an den Herd stellen. Vor allem, weil sich die Rolle der Frau drastisch verändert hat. „Wenn eine Frau den ganzen Tag in der Arbeit ist, warum sollte sie sich am Abend noch in die Küche stellen?“
Die Schülerinnen ziehen ihre Schürzen aus und legen die Geschirrtücher beiseite. Noch immer sind die Fensterscheiben angelaufen vom Dunst, der über den Waschbecken, Herdplatten und Backöfen schwebt. Es riecht nach gebratenem Fleisch, ein wenig nach Fisch und auch nach süßer Schokolade. Die Köchinnen gehen ins Nebenzimmer, wo sie nun gemeinsam mittagessen. Das kosten, was sie in den vergangenen zweieinhalb Stunden zubereitet haben. In der Küche zurück bleibt das blaue Buch mit der schnörkeligen, altmodischen Schrift. Das Buch, das Geschichten von früher erzählt. Von fetten Braten und deftigen Knödeln.
Hauswirtschaftslehrerin Monika Weber Erwin Seitz, Autor und Gastrokritiker