Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Vier Mal Leben
Literatur Wie beeinflusst der Zufall eine Biografie? Paul Auster erzählt in seinem Großwerk „4 3 2 1“die Geschichte eines jungen Amerikaners in vier Variationen. Er nennt es „das Buch seines Lebens“
Dies ist einer der Romane, bei denen man als Leser nicht hinterherkommt, Sätze anzustreichen oder zu notieren. Bei dem man über kaum eine der Seiten schnell hinweglesen möchte – aber weil es 1259 Seiten sind, es gelegentlich dann doch tut. Ein Roman, der gerade davon lebt, dass er den Leser verwirrt und gelegentlich auch grandios überfordert. Was der Leser aber am Ende sicher weiß: Dass er mit Archie Ferguson, geboren 1947, einen neuen Helden hat, der ihm bleiben wird. Und dass er einen schöneren, feineren und klügeren Roman in diesem Bücherfrühling vermutlich nicht lesen wird als „4321“, geschrieben von Paul Auster. Und damit, Schluss der langen Vorrede, hinein ins Werk, das der amerikanische Schriftsteller, vor wenigen Tagen 70 Jahre alt geworden und eigentlich notorisch unzufrieden mit seiner Arbeit, das „Buch seines Lebens“nennt.
Was wäre, wenn. Darum kreist der Roman in seiner ganzen gigantischen Länge. Und schon auf der ersten Seite wird das Thema vorgegeben, bedient sich Auster, wenn man ihm da trauen darf, eines alten jüdischen Witzes. Da steht der Großvater des Helden Archie vor einem Beamten der Einwanderungsbehörde auf Ellis Island und versucht sich an den Namen zu erinnern, den er auf Rat eines Landsmannes nun angeben soll. „Rockefeller. Damit kannst du nichts falsch machen.“Aber nun will ihm dieser tolle Name, der eine glorreiche Zukunft im neuen Land verheißt, nicht mehr einfallen, und so sagt der Großvater verzweifelt auf Jiddisch: „Ich hob fargessen“. Und der Beamte notiert als Namen „Ichabod Ferguson“. Klar, kann das schon mal nichts mehr werden. Kein Rockefeller also, sondern ein Wicht namens Ferguson, der sich bis zu seinem Tod mit Hilfsarbeiten durchschlägt. Aber der Enkel Archie ist eine Granate. Und wäre als Rockefeller womöglich ein elender Langweiler geworden! Aber wer weiß?
Was wäre, wenn. Paul Auster spielt den Gedanken in vier Variationen durch, vier Romane, die sich zu einem fügen, und in jedem einzelnen schildert er das Leben von Archie Ferguson in einer anderen Version. Immer verbringt er seine Jugend in einer Vorstadt von New York, mal in einer Wohnung, mal in einem kleinen Einfamilienhaus, mal in der Villa. Immer ist seine Mutter Rose Fotografin, immer irgendwann in ihrem Leben auch glücklich verheiratet, aber nicht immer mit demselben Mann. Immer auch ist sein Vater ein eher wortkarger Mann, für den Sohn nur schwer greifbar. Einmal aber stirbt er früh, hinterlässt eine nicht zu füllende Lücke, auch ein anderes Mal wird der Vater zur Schattenfigur, aber nur, weil der Kontakt abreißt. Dann wäre da noch die kratzbürstig-intellektuelle Amy, immer eine große Liebe, aber einmal auch seine Stiefschwester.
Und dann natürlich Archie selbst. Ein Junge, der im Feriencamp vom Blitz getroffen wird und stirbt. Der mit seinem Lieblingssport Baseball aufhört, weil in eben jenem Feriencamp sein bester Freund nach einem Spiel zusammenbricht und stirbt. Der viel später in London vom Auto überrollt wird und stirbt. Der sich das Bein bricht. Der zwei Finger verliert. Der bisexuell wird. Der nur Frauen liebt. Der Journalist wird. Der Gedichte schreibt. Der Filmkritiker wird. Der Schriftsteller wird. Immer der gleiche Archie, aber einer, dessen Leben durch Zufälle, Schicksalsschläge, Begegnungen, eigene Entscheidungen, in jedem der vier Romane eine andere Richtung nimmt. Der Kern seines Wesens aber bleibt immer gleich: eine Künstlerseele.
Wie ein Wissenschaftler setzt Paul Auster seinen Archie sozusagen verschiedenen Versuchsanordnungen aus, beobachtet ihn, wie er sich mit den neuen Gegebenheiten schlägt. Und lässt den Helden selbst dieses Spiel noch einmal in Gedanken nachvollziehen. Zersplittert seinen Archie in immer noch mehr Archies, wenn er den Helden darüber nachdenken lässt, dass es von ihm selbst mehrere Versionen gebe, „dass er nicht nur der Eine war, sondern eine Ansammlung widersprüchlicher Personen, in Gesellschaft mit anderen jedes Mal jeweils ein anderer“. Einen seiner Archies lässt Auster gar das Thema des Romans selber literarisch aufgreifen.
Was wäre, wenn... Paul Auster, der in seinen Romanen die Leser gerne durch doppelte Böden fallen lässt, treibt auch diesmal sein Spiel, erzählt jedoch linear: Kindheit, Jugend, Erwachsenwerden. Aber er ordnet die Leben seiner vier Archies parallel an, lässt den Weg des einen abbrechen, führt ihn nach 80 Seiten weiter, dazwischen Archie zwei, drei und vier. So verläuft sich der Leser also gelegentlich in diesem labyrinthhaften Buch, blättert verwirrt zurück, dann wieder vor. Und genau das wiederum macht auch den Reiz dieses Buches aus – dass man gelegentlich gar nicht mehr weiß, in welchem von Archies Leben man sich gerade befindet. Wie Folien legen sich die einzelnen Teile übereinander und ergeben ein Bild dieses begabten, empfindsamen, starrsinnigen, liebes- und bildungshungrigen jungen Mannes, das ihn erst in all seinen Facetten erfasst.
Und ein fünftes Leben liegt als weitere Folie obenauf: Das von Paul Auster selbst, geboren 1947, wie auch Archie, Sohn osteuropäischer Einwanderer, ein Vorstadtjunge, aufgewachsen in Newark, wenige Kilometer vom Sehnsuchtsort New York entfernt, Baseballfan, Student an der Columbia, Übersetzer in Paris, Schriftsteller … Wer die Literaturliste des einen jungen Archie liest, kann sich eine Vorstellung machen, wie sich der junge Paul Auster einst durch die Weltliteratur gelesen hat. Und der nicht greifbare Vater ist wiederum ein Lebensthema des Schriftstellers, das man aus seinen anderen Romanen und autobiografischen Schriften kennt. Rassenunruhen, die Ermordung Kennedys und Martin Luther Kings, Studentenproteste, der Vietnamkrieg – die politischen Ereignisse der 50er und 60er Jahre, die für den jungen Auster identitätsstiftend waren, prägen nun ebenso seine Archie-versionen, sofern sie nicht ein früher Tod ereilt. 4 3 2 1 liest sich daher auch als ein groß angelegtes Panorama der amerikanischen Zeitgeschichte, geschrieben mit nostalgischem Unterton: Paul Auster und wie er sein Land einst erlebte!
Sein Blick in die Zukunft? Eher düster. In Interviews zu seinem Geburtstag kündigte er an, er werde 2018 als Präsident des amerikanischen P.E.N. kandidieren, um seine Stimme gegen Donald Trump zu erheben und seinen Teil dazu beitragen, dass dieser Mann keine vier Jahre im Amt bleibe. Denn „wenn es so weitergeht, werden wir auseinanderbrechen, ein kaputtes, gescheitertes Land sein, und das Experiment der ,Vereinigten Staaten‘ ist am Ende“.
Was wäre, wenn ... „Er musste schreiben, sonst würde er sterben, denn trotz seiner Mühen und der Unzufriedenheit mit den oft leblosen Texten, die er hervorbrachte, fühlte er sich beim Schreiben lebendiger als bei dem, was er je getan hatte.“Sagt Archie Ferguson. Jener, der von den vieren übrig bleibt und weiterlebt. Schreibt Paul Auster. Einer von vielen Sätzen, die man notiert hat.