Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Auf ein Tänzchen mit der Folklore
Konzert Die Musik der Völker hat die Komponisten der Moderne vielfach inspiriert. Die Philharmoniker widmeten dieser Verbindung einen Abend – mit ungleichen Reaktionen
Musik der Moderne: Ihr schallt ein Ruf voraus wie Donnerhall. Wenn Komponistennamen aus dem 20. Jahrhundert von den Programmzetteln der Sinfoniekonzerte wetterleuchten, stellt sich in vielen Hörerköpfen Unbehagen ein. Pro Konzert
Stück aus dieser Zeit, das geht noch an, solange das Hauptwerk des Abends einen sinfonischen Klassiker verspricht. Wenn allerdings ausschließlich 20. Jahrhundert auf dem Programm steht, wird es happig. Dann duckt sich der eine oder andere potenzielle Konzertgänger schon mal weg. So wie am Montag beim 6. Sinfoniekonzert der Augsburger Philharmoniker in der Kongresshalle, wo die Stuhlbelegung doch etliche Lücken aufwies.
Warum ist das so? Dass, wenn Ligeti, Berio und Strawinsky angekündigt sind, deutlich weniger kommen als bei Beethoven, Dvorˇák und Brahms? Darüber lässt sich spekulieren. Es ist wohl so, dass uns die abendländische Musikgeschichte bis zur Epochengrenze 1900 gründlich abgerichtet hat. Wir sind beim Hören von Musik geeicht auf Form und Maß, brauchen fassliche Melodieportionen, wollen Wiederholungen und nichts, das einfach so vor sich hin mäandert. Und wo uns Disharmonie begegnet, sollte sie sich mög- lichst bald auflösen in Harmonie. All das gewährt uns die Musik des 18. und 19. Jahrhunderts in verschwenderischer Fülle – und verwehrt uns oftmals (aber keineswegs immer!) die Musik des 20. Jahrhunderts.
Die „Voci“des Italieners Luciano Berio (1925–2003) sind ein gutes Beispiel dafür. Wer in diesem Stück für Bratsche und Orchester ein herkömmliches Thema und dessen Bearbeitung oder Variation sucht, der wird schlichtweg nicht bedient. Der Komponist hatte anderes im Sinn: Aufspalten eines bereits vorliegenden musikalischen Materials, verändertes
„Stimmen“aus dem Leben einfacher Menschen
Zusammenfügen der Bestandteile, Re-komposition – kein Wunder, dass „Voci“beim erstmaligen Hören nicht dem Gewohnten entspricht, vielmehr fremd, vielleicht sogar abweisend wirkt.
Dabei gibt es bei diesem Werk eine schöne Brücke, um hineinzufinden in Berios Klangwelt. Der Komponist legte seinen „Voci“eine Reihe originaler sizilianischer Volksgesänge zugrunde, „Stimmen“aus der Lebens- und Arbeitswelt einfacher Menschen. Bei all ihrer kompositorischen Verfremdung klingen diese folkloristischen Wei- sen immer wieder heraus aus der Musik, vor allem im Solopart der Bratsche: in verschliffenen Tönen, bordunhaften Akkorden, gitarrenhaft gezupften Passagen. Ruth Killius, in dieser Konzertsaison Residenzkünstlerin der Philharmoniker, ist unverkennbar vertraut mit dieser hybriden Tonsprache. Ihrem engagierten Spiel, der Ausdruckspalette, derer sie sich bedient, ist anzumerken, dass sie sich als Anwältin dieser Musik versteht. Und doch hätte man sich zumindest dort, wo das Folkloristische ganz unmittelbar hervortritt, eine stärker ungebändigte, eine naturhaft-expressivere Darstellung gewünscht.
Bemerkenswert bei „Voci“ist auch das Orchester. Aufgeteilt in zwei Instrumentalgruppen und nach strenger Komponistenvorschrift in ungewohnter Sitzordnung auf der Bühne platziert, legten die Philharmoniker unter der Leitung von Peter Rundel einen flirrend-opaken Klanggrund, nur selten aufgebrochen von heftigen Tutti-einwürfen. Gerade diese statisch wirkende Orchesterpartitur trug nicht wenig dazu bei, dass Berios Stück den Ton der Publikums-pausengespräche weithin vorgab: vielfach Irritation bis hin zur offenen Ablehnung.
Musik von György Ligeti, dieser Ikone der Avantgarde des vergangenen Jahrhunderts, hatte den Abend eröffnet. Sein „Concert Românesc“ist ein frühes, zugängliches Orchesterstück, was wesentlich auf der Verwendung folkloristischen Materials aus Rumänien beruht. Schon hier fiel auf, wie sehr der Gastdirigent Rundel die Philharmoniker zur Differenzierung anzuleiten vermochte. Ein Eindruck, der in der nach der Pause gegebenen „Feuervogel“-ballettsuite (1945) von Igor Strawinsky noch einmal Steigerung erfuhr. Glänzend die dynamische Regelung des Orchesters, vor allem im leisen und halblauten Bereich, die Präzision, mit der sich die Instrumentengruppen verzahnten. Dass Rundel ein Experte gerade auch für Neue Musik ist, merkte man bei diesem „Feuervogel“allenthalben. Dem Dirigenten, Zeichen gebend mit flüssig ausgreifenden Armbewegungen, ist nicht so sehr am Atmosphärischen gelegen, etwa am Schwül-lastenden des Beginns. Rundel strebt nach struktureller Klarheit, an Knotenpunkten der Partitur auch nach analytischer Zuspitzung. Merklich ließen sich die Philharmoniker von dieser Haltung anstecken, vergaßen dabei nie, Strawinskys Musik in prächtige Farben zu kleiden – und applaudierten am Ende selbst dem Dirigenten. Das tat freudig auch das Publikum: Strawinskys Ballettmusik ist längst ein Klassiker der Moderne.