Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Paul Auster: Die Brooklyn Revue (5)
TDeutsche Übersetzung von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag Gmbh, Reinbek bei Hamburg
rotz dieser familiären Schwierigkeiten und obwohl er seine Mutter schon mit dreiundzwanzig verlor, hatte ich nie daran gezweifelt, dass Tom seinen Weg machen würde. Mit seinen Anlagen konnte er nicht scheitern, einen starken Charakter wie ihn konnten die unvorhersehbaren Stürme des Schicksals nicht aus der Bahn werfen. Bei der Beerdigung seiner Mutter war er, von Trauer überwältigt, wie betäubt umhergelaufen. Wahrscheinlich hätte ich mehr mit ihm reden sollen, aber ich war selbst viel zu erschüttert, als dass ich ihm irgendwie hätte beistehen können. Ein paar Umarmungen, ein paar gemeinsame Tränen, mehr aber auch nicht. Dann ging er nach Ann Arbor zurück, und der Kontakt riss ab. Ich gebe hauptsächlich mir die Schuld daran, aber Tom war alt genug, selbst die Initiative zu ergreifen, und hätte sich jederzeit bei mir melden können. Oder wenn nicht bei mir, dann bei seiner Cousine Rachel, die inzwischen
in Chicago studierte und also ebenfalls im Mittleren Westen lebte. Sie kannten sich seit frühester Kindheit und waren immer gut miteinander ausgekommen, aber auch von ihr schien er nichts wissen zu wollen. Die Jahre vergingen, und gelegentlich beschlichen mich leise Schuldgefühle, aber ich hatte selbst eine schwierige Phase (Eheprobleme, Gesundheitsprobleme, Geldprobleme) und war zu abgelenkt, um groß über ihn nachzudenken. Und wenn ich einmal an ihn dachte, stellte ich ihn mir als fleißigen Studenten vor, der systematisch seine Karriere verfolgte und auf der akademischen Leiter immer höher stieg. Im Frühjahr 2000 war ich mir sicher, dass er längst eine Stelle an einer prestigeträchtigen Uni wie Berkeley oder Columbia angetreten hatte – ein erfolgreicher junger Intellektueller, der bereits an seinem zweiten oder dritten Buch arbeitete. Man stelle sich daher meine Überraschung vor, als ich an diesem Diens- tagmorgen im Mai in Brightman’s Attic hineinspazierte und dort hinter der Kasse meinen Neffen erblickte, der gerade einer Kundin Wechselgeld herausgab. Zum Glück sah ich Tom, bevor er mich sah. Gott weiß, was für bedauerliche Worte mir entschlüpft wären, hätte ich nicht diese zehn oder zwölf Sekunden gehabt, den Schrecken aufzufangen. Ich rede nicht nur von dem rätselhaften Umstand, dass er als Aushilfe in einem Antiquariat arbeitete, sondern auch von seinem völlig veränderten Äußeren. Tom hatte immer zur Korpulenz geneigt. Er war mit der grobknochigen Statur eines Bauern geplagt, die mühelos große Gewichte tragen konnte ein genetisches Geschenk seines verschwundenen, mehr oder weniger alkoholsüchtigen Vaters -, aber trotzdem war er, als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, relativ gut in Form gewesen. Stämmig, das ja, aber doch muskulös und kräftig, mit athletisch federndem Gang. Jetzt, sieben Jahre später, hatte er gut fünfzehn bis zwanzig Kilo zugelegt und machte einen ausgesprochen pummeligen Eindruck. Wo früher ein Kinn gewesen war, hatte er jetzt zwei, und sogar seine Hände waren dick und rund, wie man es oft bei älteren Klempnern sieht. Wahrlich ein trauriger Anblick. Das Funkeln in den Augen meines Neffen war erloschen, seine ganze ein Bild des Scheiterns. Als die Kundin ihr Buch bezahlt hatte, schob ich mich dorthin, wo sie eben gestanden hatte, legte meine Hände auf die Theke und beugte mich vor. Tom bückte sich gerade nach einer Münze, die auf den Boden gefallen war. Ich räusperte mich und sagte: „Hallo, Tom. Lange nicht gesehen.“Mein Neffe sah auf. Anfangs schien er völlig verwirrt, und ich fürchtete schon, er hätte mich nicht erkannt. Dann aber trat ein Lächeln auf sein Gesicht, und als es immer breiter wurde, erkannte ich erleichtert, dass es noch sein altes Lächeln war. Mit einer kleinen Beimischung von Melancholie, mag sein, aber ich sah, dass er doch nicht so verändert schien, wie ich befürchtet hatte. „Onkel Nat!“, rief er. „Was zum Teufel treibst du in Brooklyn?“Ehe ich antworten konnte, stürzte er hinter der Theke hervor und schlang seine Arme um mich. Zu meiner nicht geringen Verwunderung füllten sich meine Augen mit Tränen.
NErscheinung
Abschied vom Hof
och am selben Tag lud ich ihn zum Essen im Cosmic Diner ein. Die prächtige Marina brachte uns Truthahn-sandwiches und Eiskaffee, und ich flirtete ein wenig aggressiver mit ihr als gewöhnlich, vielleicht weil ich Tom beeindrucken wollte, vielleicht auch einfach, weil ich so überschwänglich war. Mir war nicht bewusst gewesen, wie sehr ich den guten Dr. Thumb vermisst hatte, und jetzt stellte sich heraus, dass wir Nachbarn waren - der Zufall wollte es, dass wir nur zwei Blocks voneinander entfernt im alten Königreich Brooklyn, New York, lebten.
Er arbeite seit fünf Monaten in Brightman’s Attic, erzählte er, und ich hätte ihn nur deshalb nicht schon früher gesehen, weil er sonst immer oben an den monatlichen Katalogen der Rara arbeite, was ein wesentlich lukrativeres Geschäft sei als der Handel mit gebrauchten Büchern im Erdgeschoss. Tom war kein Verkäufer, und er saß sonst nie an der Kasse, aber der eigentliche Verkäufer hatte an diesem Vormittag einen Arzttermin, und Harry hatte Tom gebeten, solange für ihn einzuspringen. Der Job sei nichts Besonderes, fuhr Tom fort, aber immer noch besser als Taxi fahren, was er gemacht habe, seit er nach dem Abbruch seines Studiums nach New York zurückgekehrt sei.
„Wann war das?“, fragte ich und suchte meine Enttäuschung so gut es ging zu verbergen.
„Vor zweieinhalb Jahren“, sagte er.
„Ich habe meine Kurse alle abgeschlossen und die mündlichen Prüfungen absolviert, aber dann bin ich in der Dissertation stecken geblieben. Ich habe mich übernommen, Onkel Nat.“
„Sag nicht dauernd Onkel Nat, Tom. Sag einfach Nathan zu mir, wie jeder andere auch. Seit deine Mutter tot ist, komme ich mir nicht mehr wie ein Onkel vor.“
„Also gut, Nathan. Aber mein Onkel bist du trotzdem, ob du willst oder nicht. Tante Edith ist wohl nicht mehr meine Tante, nehme ich an, aber selbst wenn sie jetzt zur Extante degradiert ist, ist Rachel immer noch meine Cousine, und du bist immer noch mein Onkel.“
„Sag einfach Nathan zu Tom.“
„Mach ich, Onkel Nat, versprochen. Von jetzt an werde ich immer Nathan zu dir sagen. Zum Ausgleich möchte ich, dass du Tom zu mir sagst. Nicht mehr Dr. Thumb. Abgemacht? Das ist mir peinlich.“
„Aber so habe ich dich immer genannt. Schon als du ein kleiner Junge warst.“
„Und ich habe dich immer Onkel Nat genannt.“
„Du hast Recht. Ich gebe mich geschlagen.“ mir, »6. Fortsetzung folgt