Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Die Angst vor dem Netzwerk
Hintergrund Die Ermittler sind sich sicher, dass der Selbstmordattentäter nicht alleine handelte. London reagiert empört über den indiskreten Umgang in den USA mit Ermittlungsergebnissen
London Es sind so viele Geschichten. Von Helden und Helfern, von Todesopfern und Terror, von Polizeiarbeit und Politik. Sie alle werden derzeit auf der Insel erzählt und überwältigen die Briten, die versuchen, das Unbegreifliche zu begreifen. 22 Menschen verloren bei dem Terroranschlag am Montagabend in Manchester ihr Leben, darunter zahlreiche Kinder und Teenager. Noch immer laufen die Ermittlungen zu den Hintergründen der Tat. Wer war Salman Abedi? Wer war jener Mann, der sich nach dem Popkonzert von Teenie-star Ariana Grande im Foyer in die Luft sprengte? Die Ermittler versuchen, die tausende Teile des Puzzles zusammenzusetzen. Mittlerweile gehen sie davon aus, dass Abedi Teil eines Netzwerkes war, wie der Polizeichef von Manchester bestätigte.
Umso empörter zeigten sich die Behörden über undichte Stellen im Ausland. So haben Us-medien bereits zum zweiten Mal sensible Informationen veröffentlicht, bevor die Sicherheitsdienste im Königreich
May will sich persönlich bei Trump beschweren
diese freigegeben oder sich dazu geäußert hätten. Die Indiskretionen belasten das Verhältnis der beiden Länder – ausgerechnet. Denn stets rühmt vor allem Großbritannien die „besondere Beziehung“zum Us-partner. Doch der Vertrauensbruch wiegt schwer.
Erst wurde der Name des Attentäters deutlich früher veröffentlicht, als dies die Ermittler aufgrund der laufenden Untersuchungen wünschten. Nun wurden forensische Aufnahmen geleakt, wofür die Regierung in London sowie Politiker und Beamte in Manchester die Us-geheimdienste scharf kritisierten. In der sind erste Bilder vom Tatort zu sehen, darunter Fotos eines zerfetzten blauen Rucksacks und eines Zünders. Als Konsequenz will die Polizei nun keine Informationen über den Anschlag mehr mit den Diensten in den USA teilen. Und die Sache soll auf höchster Ebene geklärt werden. Premierministerin Theresa May kündigte gestern an, sich am Rande des Natogipfels bei Us-präsident Donald Trump persönlich über die Weitergabe der Interna beschweren zu wollen.
Es herrscht Nervosität: Nach zehn Jahren rief Großbritannien erstmals wieder die höchste Terrorwarnstufe aus. Danach könnte ein weiterer Anschlag unmittelbar bevorstehen. Zudem wurde das Militär gerufen. Fast 1000 bewaffnete Soldaten werden eingesetzt, um etwa die Ordnungshüter um den Regierungssitz in Downing Street, den Westminster-palast oder den Buckingham-palast zu unterstützen oder gegebenenfalls zu ersetzen. Auf der Suche nach möglichen Komplizen gab es mehrere Razzien. Bis gestern Abend befanden sich acht Verdächtige in Polizeigewahrsam, die offenbar in Verbindung mit dem Anschlag stehen könnten.
Über den 22-jährigen mutmaßlichen Attentäter kommen immer mehr Details ans Licht. Abedi, dessen Eltern vor dem Gaddafi-regime aus Libyen ins Königreich geflüchtet sind, wurde 1994 in Manchester geboren, ging in der nordenglischen Stadt zur Schule und lebte in einem für England typischen roten Backsteinhaus mit Vorgarten. Sein Wirtschaftsstudium an der Salford-universität in Manchester hat der junge Mann, der zwei Brüder und eine Schwester hatte, offenbar abgebrochen.
Von Bekannten wurde er als „zurückhaltend“und im Umgang als „respektvoll“beschrieben. Will man etlichen Berichten glauben, war er ein unauffälliger, ruhiger Mann, „ein normaler Typ“. Der Vater, Ramadan Abedi, der sich zurzeit in Tripolis aufhält, gab am Mittwoch ein Interview, in dem er seinen Sohn als „unschuldig“bezeichnete, bevor er selbst von der libyschen Polizei festgenommen wurde. Genauso wie sein anderer Sohn Hachem Abedi. Dieser habe laut Behörden ausgesagt, dass er ebenso wie der Selbstmordattentäter der Terrororganisation des Islamischen Staats (IS) angehöre.
Innenministerin Amber Rudd zufolge sei Salman Abedi bereits in der Vergangenheit ins Visier der Behörden gerückt. Offenbar wurde er aber nicht als Hochsicherheitsrisiko betrachtet. Dabei kehrte der Brite erst vier Tage vor dem Anschlag aus Libyen nach England heim. Während seiner Rückreise verbrachte er auch kurze Zeit im Transitbereich des Düsseldorfer Flughafens, Kontakte soll er hier aber nicht gehabt haben. Laut des französischen Innenministers Gérard Collomb sei Abedi wahrscheinlich auch nach Syrien gereist.
Nachdem am Dienstag erst zwei der Opfer bekannt waren – eine 18-jährige Studentin sowie ein achtjähriges Mädchen –, veröffentlichten die Behörden in den vergangenen Tagen weitere Details zu den Getöteten. Die 15-jährige Olivia Campbell, deren Mutter voller Verzweiflung via sozialer Medien nach ihrer Tochter suchte, musste ebenso ihr Leben lassen wie die 14-jährige Schülerin Nell Jones, eine Polizistin oder ein polnisches Pärchen aus York, das seine Töchter nach dem Ende des Ariana-grande-konzerts abholen wollte.
In Manchester bestimmen Trauer und Trotz die Tage nach dem schrecklichen Terroranschlag. Mit einer Schweigeminute gedachten die Briten gestern der Opfer und Königin Elizabeth II. besuchte einige der verletzten Kinder im Krankenhaus. Im Zentrum der Stadt legten Trauernde Blumen im Gedenken an die Opfer ab, zündeten Kerzen an oder ließen Luftballons steigen. „Manchester wird zusammenstehen – Eine Liebe für alle“, schrieb jemand mit Kreide auf den Boden. Passanten blieben stehen, lasen und nickten. Die Reaktion passt zu jener stolzen Stadt im Norden Englands, die einmal das industrielle Zentrum des Landes darstellte und die als eine der multikulturellsten und tolerantesten der Insel gilt. Projekte zur Integration gewinnen Preise. Initiativen, um unterschiedliche Religionsgruppen zusammenzuführen, finden großen Anklang. Und so kommt es wenig überraschend, dass die überwältigende Mehrheit der Menschen derzeit vor allem die Toleranz und Offenheit preist, für die Manchester so berühmt ist.