Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe (16)
Ich versagte mir die Frage, was es damit auf sich hätte, ließ mir zeigen, wie man Fische entschuppt, schälte Kartoffeln, wusch Salat und machte eine Salatsoße. Ich kann nicht kochen, aber mir gelingen Salatsoßen. Irene fragte mich, was ich in Sydney gemacht hätte, was ich in Frankfurt machte, fragte mich nach Frau und Kindern und ob ich mit meinem Leben zufrieden sei. Ich wollte eigentlich von mir nicht mehr preisgeben als sie von sich, aber sie wendete meine wenigen Fragen, die ich zwischen ihren vielen stellen konnte, sogleich in Rückfragen und gab nichts von sich preis.
Und doch war, als wir schließlich auf dem Balkon saßen und aßen, ein bisschen Vertrautheit entstanden – durch das Kochen und das Reden und die Berührungen, die sich ergaben, weil ich sie hielt, als sie auf eine kleine Leiter trat und eine Flasche Öl aus einem hohen Schrank holte, und weil ich ihr beim verstopften Abfluss und bei einer klemmenden Schublade half.
Ich sah das Boot, ehe ich es hörte. Ich hatte die ganze Zeit nicht auf die Uhr geschaut. Als das Tuckern des Bootes zu hören war, sagte Irene: „Du bist doch nicht nur so gekommen. Wann willst du reden?“„Ich komme morgen wieder.“„Du kannst hierbleiben. Oben gibt’s sechs freie Zimmer. Ich finde einen Schlafanzug für dich und frische Wäsche und einen Overall, damit du dich nicht schmutzig machst, wenn du mir morgen hilfst.“
Also ging ich an die Mole und redete mit Mark. Er fragte mich, ob ich ihm nicht den Autoschlüssel geben wolle. Dann könne er morgen mein Gepäck mitbringen. Falls ich noch länger bliebe.
Als ich wieder auf dem Balkon war, hatte sie den Tisch abgeräumt und eine Flasche Rotwein aufgemacht.
„Wollte Schwind alle seine Bilder behalten oder nur das mit dir?“Ich wollte nicht mit der Tür ins Haus fallen.
„Er wollte die Bilder behalten, über die er sich als Künstler definierte. Er hat nicht mal dieses Bild gemalt und mal jenes. Er wollte Antworten geben auf die heutigen Fragen der Malerei: was sie als gegenständliche und als abstrakte leistet, wie sie zur Fotografie steht, wie sich Schönheit und Wahrheit zueinander verhalten.“
„Das Bild mit dir…“
„Es sollte Marcel Duchamp widerlegen. Kennst du den ,Akt, eine Treppe herabsteigend‘? Eine kubistische Gestalt, in die Momente des Herabsteigens aufgelöst, ein Wirbel von Beinen, Gesäßen, Armen und Köpfen? Duchamps Bild galt als das Ende der Malerei, und Schwind wollte beweisen, dass eine nackte Frau, die Treppe herabsteigend, nach wie vor gemalt werden kann.“
Ich verstand nicht. „Wie soll, was Duchamp gemalt hat, das Ende der Malerei sein?“Sie lächelte. „Du bist gekommen, um endlich moderne Kunst zu verstehen?“Sie lächelte freundlich. Aber hinter der Freundlichkeit verbarg sich etwas, das ich nicht deuten konnte. War es Verachtung, Abweisung, Müdigkeit? Dass man, wenn man sehr müde ist, sagt, man sei todmüde, fiel mir ein, und dass man, wenn man todmüde ist, doch voller Leben ist, und wenn man lebensmüde ist, schon dem Tod nahe.
„Ich will verstehen, was damals war. Ich habe es dir leicht gemacht. Aber du hast mich benutzt und es mich dann auch noch deutlich spüren lassen. Du hättest anrufen oder einen Brief oder eine Karte schreiben können. Warum hast du, wenn du meintest, mich benutzen und verletzen zu müssen, es nicht…“
„ …freundlich verpacken können?“Jetzt sprach sie mit offener Verachtung. „Für Gundlach war ich die junge, blonde, schöne Trophäe, bei der nur die Verpackung zählte. Für Schwind war ich Inspiration, auch dafür langte die Verpackung. Dann kamst du. Die dritte blöde Frauenrolle; nach dem Weibchen und der Muse die bedrohte Prinzessin, die vom Prinzen gerettet wird. Damit sie nicht in die Hände der Schufte fällt, nimmt der Prinz sie in seine Hände. Denn in eines Mannes Hände gehört sie nun einmal.“Sie schüttelte den Kopf. „Nein, nach freundlichem Verpacken war mir damals nicht.“
„Ich habe dir keine Rolle aufgenötigt. Als ich dich damals angesprochen habe, hättest du mich freundlich abweisen und deiner Wege gehen können.“„Freundlich abweisen …“„Du hättest mich auch unfreundlich abweisen können. Jedenfalls musstest du mich nicht benutzen.“
Sie nickte müde. „Rollen machen dich berechenbar, austauschbar, benutzbar. Der Prinz, der die Prinzessin rettet – du hast mich ebenso benutzt wie Gundlach und Schwind.“
Wir beschäftigen in unserer Kanzlei mehr Frauen, als der statistische Durchschnitt verlangt. Wir unterhalten zusammen mit dem Steuerberater unter und dem Wirtschaftsprüfer über uns einen eigenen Kindergarten. Ich habe die Karriere meiner Frau gefördert und meiner Tochter nach dem Kunstgeschichtsnoch ein Jurastudium bezahlt. Mir hat niemand feministische Lehren zu erteilen.
„Willst du mir weismachen, du hättest nur zwischen Trophäe, Muse und Prinzessin wählen können? Zwischen dem, was Gundlach, Schwind und ich von dir wollten? Mit deinem Geld und deinem Beruf hattest du jede Chance, dich selbst zu erfinden. Schiebe die Verantwortung…“
„Verantwortung? Du willst gar nicht verstehen, du willst verurteilen.“Sie sah mich ungläubig an. „Ist es das, was für dich zählt? Dass du mich verurteilen kannst? Dass du dir nichts vorwerfen musst? Die Summe deines Lebens kann doch nicht dein Freispruch sein! Du hast gearbeitet, geliebt, geheiratet, Kinder…“Ich verstand nicht. „Ich wollte nur sagen …“
„Wird man so, wenn man ein Leben lang mit dem Recht zu tun hat? Es geht nicht mehr darum, wer man ist, sondern dass man im Recht ist? Und der andere im Unrecht?“
Ich verstand noch immer nicht, was sie von mir wollte. Es war Nacht geworden, wieder binnen Minuten. Aber die Nacht war nicht schwarz, der Mond ließ die Blätter der Bäume silbern leuchten und das Meer glitzern. Er schien auf Irenes Gesicht und zeichnete jede Falte, jede welke Stelle, jeden müden Zug so mitleidslos deutlich, dass ich Mitleid mit ihr bekam – und mit mir. Wir waren alt, es war alles lange her. Was plagte ich sie, was plagte ich mich mit der alten Geschichte!
Aber so leicht konnte ich von der alten Geschichte doch nicht lassen. Gerade als ich es mir eingestand, sagte sie: „Es tut mir leid, dass ich dich damals verletzt habe. Ich fühlte mich so eingesperrt, dass ich nur ausbrechen wollte und mir alles andere egal war. Wenn ich zurückdenke… was für ein Kind du noch warst.“Wenn ich damals noch ein Kind war, was war ich jetzt? Als ich im Bett lag, ließ Irenes Bemerkung mich nicht schlafen. Natürlich weiß ich viel mehr als damals über die Menschen und wie man ihnen begegnet, was man ihnen schuldet und was man sich von ihnen nicht bieten lassen darf, wie es bei Verhandlungen zugeht und wie vor Gericht. »17. Fortsetzung folgt