Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Serie: Deutschlands Herausforderungen vor der Wahl Ein Pflegeheimleiter klagt an
Soziales Armin Rieger wollte einst als Investor Geld in der Pflegebranche verdienen. Heute gilt der Betreiber eines Vorzeigeheims als einer der bekanntesten Kritiker des Pflegesystems. Der Insider berichtet von skandalösen Missständen
Als Armin Rieger vor zwanzig Jahren noch als Immobilienmann und Geschäftsführer einer Bauträgerfirma mit Millionensummen jonglierte, dachte er an ein lohnendes Investment: Ein Bekannter bot ihm an, an seiner Seite in ein Pflegeheim mit einzusteigen. Die Zahlen klangen vielversprechend, die Pflege schien schon damals eine Wachstumsbranche, in der sich dank gesetzlicher Pflegeversicherung gut Geld verdienen lässt. Doch mit der Entscheidung, das „Haus Marie“in der Nähe der Augsburger Kahnfahrt zu gründen, änderte sich Riegers Leben für immer. „Ich wurde sprichwörtlich vom Saulus zum Paulus“, sagt der 59-Jährige heute.
Damals als Investor hatte es ihn anfangs kaum interessiert, was im Inneren des Heims vor sich ging. Er wollte sich als Geldgeber im Hintergrund halten und den Betrieb seinen Partnern überlassen, die sich in der Altenpflege auskannten. Doch das änderte sich schnell, als statt der erhofften Rendite das „Haus Marie“plötzlich in die Insolvenz zu schlittern drohte. Überrascht erfuhr Rieger, dass die Einrichtung, an der er 50 Prozent hielt, in Augsburg den Ruf hatte, eines der übelsten und schlechtesten Pflegeheime zu sein. Angehörige mussten selbst Getränke kaufen, damit die Bewohner etwas zum Trinken hatten, und es gab zu wenig Essen. Der Schock saß bei Rieger tief. Neben den drohenden persönlichen finanziellen Problemen war er mittendrin in einem der zahllosen Pflegeskandale.
Heute, zwanzig Jahre später, zählt Rieger zu den bekanntesten Mahnern, die Missstände in der Pflege anprangern. Die dagegen kämpfen, dass Gesellschaft, Politik und die mächtige Allianz der großen Betreibergesellschaften oftmals wegschauen, was im Inneren der deutschen Pflegeheime vor sich geht. Das „Haus Marie“gilt heute als ein Vorzeigeheim für schwerstpflegebedürftige Senioren mit Leiden wie Alzheimer und Demenz. Rieger warf seine Ex-geschäftspartner raus, wurde selbst hauptberuflich Heimgeschäftsführer und machte eine seiner damaligen Pflegerinnen zur Heimleiterin.
Als Heimbetreiber fiel Rieger, der seine Berufskarriere ursprünglich als Kriminalpolizist begann, schnell auf. Erstmals gab es jemanden, der öffentlich die skandalösen Missstände in seinem Heim einräumte und antrat, um sie zu verbessern. „Ich musste feststellen, dass es schwierig bis unmöglich war, mit dem gesetzlich vorgeschriebe- nen Personalschlüssel eine gute und menschenwürdige Pflege zu gewährleisten.“Rieger stellte mehr Pflegepersonal ein als gesetzlich vorgegeben. Sparte nicht an Hauswirtschaftspersonal: Legt bis heute großen Wert darauf, dass das Essen jeden Tag in der heimeigenen Küche frisch gekocht wird. Schnell stieß der Seiteneinsteiger aber auf die Probleme des deutschen Pflegesystems. Rieger bringt sie heute auf eine einfache Formel: „Gute Pflege ist gleich wenig Gewinn. Schlechte Pflege ist gleich viel Gewinn.“
Heimbetreiber würden durch die gesetzlichen Vorgaben belohnt, wenn sie am Personal, Essen und anderen wichtigen Dingen sparen. Wer bestrebt sei, den Bewohnern eine bestmögliche Pflege zukommen zu lassen, werde bestraft, so Riegers Kritik. Er könne die gute Pflege in seinem Haus nur garantieren, weil er und sein Teilhaber auf Gewinn verzichteten und er sich selbst auch kein übliches Gehalt bezahle. Dass die großen privaten Pflegeheimketten in ihren Geschäftsberichten bis zu dreistellige Millionengewinne ausweisen, gehört für Rieger zu den Wurzeln der vielen Pflegeskandale in Heimen, die seit Jahren durch die Presse gehen. Er kritisiert, dass die großen Wohlfahrtsorganisationen wie Caritas, Diakonie oder Arbeiterwohlfahrt gar keine Zahlen veröffentlichen müssten, ob und wie viel Gewinn sie in ihren Einrichtungen erzielen.
Die Serie der Pflegeskandale, über die immer wieder Medien berichten, reißt nicht ab. „Einer der größten alltäglichen Skandale ist, dass es in unserem reichen Wohlstandsland noch immer Heime gibt, in denen Menschen nicht genug zu essen bekommen“, sagt Rieger.
Er nennt nicht nur Fälle wie 2010 in Mainz, als die Behörden einem Heim einer privaten Großkette die Betriebserlaubnis entziehen wollten: Bei mehreren Bewohnern wurden besonders schwere Fälle von Unterernährung und andere gravierende Missstände festgestellt. Viele Heime sparten auch einfach an Zwischenmahlzeiten. Regelmäßig Kaffee und Kuchen am Nachmittag seien heute alles andere als selbstverständlich.
Für Rieger ist das keine Nebensächlichkeit, sondern auch eine Frage der Menschenwürde: „Essen ist oft eine der letzten Freuden und Annehmlichkeiten alter pflegebedürftiger Menschen.“Massenhaft sei aber heute schlechtes Fertigessen an der Tagesordnung. Kriminell werde es – zumindest nach dem moralischen Maßstab des Ex-polizisten –, wenn es in Pflegheimen auch heute zu vermeidbaren Fällen des Wundliegens komme. „Das ist Körperverletzung, eigentlich ein Fall für die Staatsanwaltschaft.“Eines der fragwürdigsten Symbole, über das, was schiefläuft im Pflegesystem, sei die „Dreiliter-windel“, sagt Rieger: „Es gibt keinen Menschen, der eine Drei-liter-windel braucht, niemand hat so viel Ausscheidungen. Das dient nur als Sparmaßnahme, um Pflegezeit und -personal zu sparen.“
Für Rieger waren es solche Missstände, die ihn vor Jahren zum bundesweit beachteten Pflegekritiker werden ließen. Als 2009 die Bundesregierung den sogenannten Pflegetüv einführte, kamen trotz allgemein bekannter und diskutierter Missstände sämtliche Pflegeheime und Pflegedienste bei Bewertung von über achtzig Kriterien auf die Durchschnittsnote 1,3. „Das ist eine der größten Verbrauchertäuschungen, die es gibt“, sagt Rieger, dessen Heim auch mit 1,0 ausgezeichnet wurde. „Es gibt kein einziges Pflegeheim, das eine 1,0 verdient“, sagt er. Aus Protest boykottiert er das System seit Jahren: „Beim Pflegetüv wird nicht bewertet, ob das Essen schmeckt, sondern die Schriftgröße des Speiseplans“, sagt Rieger. Es werde nicht beurteilt, ob ein Fall des Wundliegens vermeidbar war, sondern nur, ob er lückenlos dokumentiert wurde.
Als Rieger sich 2013 aus Protest weigerte den obligatorischen Ordner
Die Hoffnung auf die Politik hat Rieger aufgegeben
„Unterlagen für die Heimprüfung“vorzulegen, erhielt das „Haus Marie“die Note 3,6. Seitdem hat der Heimleiter von den Medien das Etikett „Pflege-rebell“angehaftet bekommen, über das Rieger nie besonders glücklich war. Jetzt hat er es allerdings genutzt, um ein Buch über die vielen Missstände in seiner Branche zu schreiben: „Der Pflegeaufstand“heißt es und hat es im Sommer geschafft, auf die Paperback-bestsellerliste zu kommen (Ludwig Verlag, 240 Seiten, 16,99 Euro). Rieger ruft darin vor allem das Pflegepersonal auf, nicht länger am Selbstbetrug der Pflegebranche mitzumachen.
Die Hoffnung, dass die Politik an den Missständen in der Pflege etwas ändert, hat Rieger aufgegeben. „So wie im Verkehrsministerium die Autobosse ein- und ausgehen, geben sich im Gesundheitsministerium die Lobbyisten der Gesundheitsbranche die Klinke in die Hand.“Auch die jüngste Pflegereform bringe zwar für die bisherigen Pflegebedürftigen Bestandschutz. Die Aufspaltung der Pflegestufe drei in die neuen Pflegegrade vier und fünf drohe aber langfristig die Pflegepersonalsituation zu verschlechtern. Für „reine Augenwischerei“hält es Rieger zudem, wenn die Reform pflegenden Angehörigen Pflegeplätze etwa zu Urlaubszeiten verspreche: „Selbst in Notfällen gleicht es schon jetzt fast einem Lottogewinn, rechtzeitig einen Kurzzeitpflegeplatz zu finden.“