Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
„Die Zeit entscheidet“
wussten nicht, was bleiben wird. Das wissen wir erst heute.“Serres beugt sich leicht nach vorne. Die unzähmbaren, buschigen Augenbrauen fahren nach oben. „Ich glaube, die Gesellschaftsform, die wir mit der Erfindung des Internets hinter uns gelassen haben, basiert auf der Idee der Konzentration. Überall gab es Konzentrationen: eine Universität ist eine Konzentration von Studenten und Professoren. Eine Bank ist ein Konzentrat des Geldes. Ein großes Geschäft ist eine Konzentration von Waren und so weiter. In der Zeit der Konzentration war es interessant und wichtig, in das Zentrum zu gehen, um zu verstehen, um bestimmte Sachen zu erwerben. Heute ist unsere Gesellschaft nach dem Modell eines Netzwerks organisiert. Das Modell der Konzentration hat sich immer mehr verflüssigt, aufgelöst. All das hat das Internet ausgelöst. Ich glaube, es gibt kein Zentrum mehr.“
Entsprechend vielfältig ist Frankreichs Buchmarkt heute. Der Transfer von Kultur und Lebensart in die französischsprachigen ehemaligen Kolonien funktioniert längst auch in die andere Richtung. Assia Djebar, Kamel Daoud oder Marie Ndiaye sind exemplarisch einige der Autoren, die einem großen französischen Publikum einen anderen Blick auf das eigene Land vermittelt haben (toll beschrieben im Buch von Iris Radisch, links). Migrationserfahrung und Identitätskrisen als die Themen der neuen Literatur also?
Die Antwort von Michel Serres ist zweigeteilt. Die Identität, das ist für ihn zuallererst das Individuum. Nationalität, Alter, Geschlecht – alles andere nur Zugehörigkeiten zu Gruppen. Beides zu verwechseln, ist Rassismus. Ein guter Autor schürft, so Serres, so tief in seiner Identität, dass die Gruppenzugehörigkeiten verblassen und die Bücher alle berühren. Man kann es aber auch so sagen: „,Autor‘ kommt vom lateinischen Verb ,augeo‘, vermehren oder erhöhen. Den Autor muss man auch so sehen. Ein wirklicher Autor ist derjenige, der mich erhebt. Wenn ich ihn gelesen habe, bin ich besser als zuvor.“