Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Kann ein Mann sechs Frauen lieben?
Max Ernst konnte. Und wer in Markus Orths Roman über das Leben des Malers versinkt, wird womöglich nicht nur verstehen können, wie bedeutend ihm jede einzelne von ihnen als Muse und/oder Partnerin gewesen ist – womöglich entflammt der Leser auch selbst in Leidenschaft für Verhängnis und Freiheit, die in diesen Begegnungen steckten.
Es ist ja ohnehin eine unwiderstehlich wilde Zeit gewesen – die Neuerfindung der Kunst in Dadaismus und Surrealismus, der tödliche Wahn der Weltkriege. Und zunächst scheint es, als würde Max Ernst sie an der Seite seiner Lou und mit ihrem Sohn relativ geordnet durchleben. Aber spätestens mit dem Umzug nach Paris und dem Kennenlernen des Schriftstellers Paul Éluard und vor allem dessen Frau Gala und dann auch mit Flucht vor den Nazis in die USA beginnt ein Ringen zwischen Not und Genie, das ihn mit den großen Namen jener Zeit in Verbindung bringt: André Breton und Peggy Guggenheim, Picasso und Man Ray, Brancusi und Marcel Duchamp… Und Ernst heiratete zwischenzeitlich die ungestüme Marie-berthe Aurenche, liebte Leonora Carrington, bis er schließlich an der Seite von Dorothea Tanning zur Ruhe findet und nach Paris zurückkehrt. Toller Stoff also für einen versierten Autor wie Markus Orths. Denn der versteht sich sowohl auf die Untiefen der Leidenschaft wie auf den ständigen Grenzgang des Künstlerdaseins – und inszeniert das selbst eher packend als kunstvoll. Theresa Enzensberger: Blaupause Hanser, 256 Seiten, 22 Euro
EMarkus Orths: Max Hanser, 567 Seiten, 24 Euro in Haus ist nicht nur ein Gefäß für die Menschen, es hat Auswirkungen auf ihr Leben und Denken.“Luise Schilling, Großbürgerstochter aus Berlin, will also nicht nur entwerfen und bauen, sondern als künftige Architektin auch gleich die Welt ein wenig verändern. Deswegen spricht sie 1921 beim Bauhauschef Walter Gropius in Weimar vor. Der ist erst etwas unwirsch, dann, nach einem Blick in ihre Arbeitsmappe, gnädig: „Ihre Zeichnungen haben Potential.“Die junge Frau dürfe im Vorkurs der Kunstschule beginnen…
Diese Luise Schilling gab es wirklich, später zog sie nach New York, überprüfte im New Yorker City Department of Building unter anderem auch die von Walter Gropius entworfenen Pläne des „Panam-gebäudes“und urteilte: „Es ist genau das, was den Leuten inzwischen als modern gilt: höher, größer, phallischer.“Was aber nach dieser ersten Begegnung passierte, von ihren Studentenjahren
Der Krieg ist aus. Deutschland liegt in Trümmern. Dass Karlchen lebt, hat einen einfachen Grund: Sie haben ihn nicht entdeckt. Sonst hätten die Nazis ihn getötet wie die anderen. Unwertes Leben, eine „Ballastexistenz“, einer, der aus dem Rassenwahn-schema fällt. Aber Karlchens Eltern haben den geistig Behinderten zwölf Jahre in ihrer Wohnung versteckt. Nachbarn haben geschwiegen. Jetzt springt Karlchen mit den anderen Kindern in Hamburg auf der Straße und freut sich über einen Kaugummi, den ein Us-soldat ihm zusteckt. Uwe Timm beginnt seinen Roman „Ikarien“mit dieser Szene – eine persönliche Kindheitserinnerung des Autors. Ein Gegenbild, ein Licht in den dunklen Ruinen des Todes.
Karlchen hat überlebt. Glück, Zufall, Ausnahme. Doch Timms Roman, der 1945 in der unmittelbaren Nachkriegszeit in Deutschland angesiedelt ist, versucht zu ergründen, wie es dazu kommen konnte, dass Tausende und Abertausende in Kliniken und Anstalten ermordet wurden, weil sie von der arischen „Norm“abwichen.
Wenn man so will, erzählt Uwe Timm eine Familiengeschichte. Denn der Rassentheoretiker Alfred Ploetz, der zum Heer der Wissenschaftler gehörte, die aus dem Labor heraus und mit ihren Theorien das Euthanasie-vernichtungswerk der Nazis unterfütterten, war der Großvater von Timms Ehefrau. Timm, Jahrgang 1940, rekapituliert den Weg, den dieser Alfred Ploetz zurückgelegt hat – vom Pazifisten und Humanisten, vom Idealisten und Kommunisten zum verbohrten Rasse-theoretiker, vom Weltverbesserer zum gnadenlosen Auslese-dogmatiker. Im Roman, der den Spagat zwischen Erzählung und Faktenreferat versucht und dabei vielleicht im Bauhaus erst in Weimar, dann in Dessau, erzählt Theresa Enzensberger – ja, es handelt sich um die Tochter des großen Hans Magnus Enzensberger – in ihrem Debütroman „Blaupause“. Ein 250 Seiten schmales Werk, das sich so aktuell, frisch und leicht liest, als habe die Autorin nur ein wenig Staub von den Zeichentischen pusten müssen.
Enzensberger beherrscht die Skizze, arbeitet mit schnellem Strich. Gropius? „Er ist größer, als ich dachte, und obwohl ich sein Gesicht nicht sehe, spüre ich, wie gewohnt er es ist, mit dem größten Respekt behandelt zu werden.“So porträtiert sie Lehrer, Schüler, Freunde… entsteht ein kleines Who is who des Bauhauses: Johannes Itten, Esoteriker, der eine ihm in allen ergebene Jüngerschar um sich sammelt. Paul Klee, von den Studenten „der liebe Gott“genannt, „vielleicht weil er so menschenscheu ist.“Und zugleich liefert sie eine knappe, ein wenig zu oft ins Referieren kippt, baut Timm auf zwei Säulen. Da ist der junge deutschsprachige Us-soldat Michael Hansen, der den Auftrag hat, die Experimente und Arbeiten des (inzwischen gestorbenen) Rassehygienikers Ploetz zu erforschen. Sein wichtigster Zeuge dabei ist der alte Antiquar Wagner, ein ehemaliger Weggefährte von Ploetz und erklärter Nazi-gegner. In die langen Gespräche zwischen Wagner und Hansen packt Timm alles hinein, was diese Spurensuche ausleuchtet. Er geht zurück zum Ideal der Kommune, wie es Etienne Cabet in seinem 1840 erschienenen Roman „Die Reise nach Ikarien“beschreibt, wirft einen Blick auf die Räterepublik, versucht, die Wurzeln der Nazi-ideologie freizulegen, verhandelt Schuld und Verblendung, zeigt auf, dass die eugenetische
„Was trieb diese Leute an? Es sieht doch alles so nett und adrett aus.“
Bewegung viele Länder erfasst hatte, nicht nur Deutschland. „Aber das Denken war damals völlig verstopft von der Idee der Größe und Menge des Volks, auch im Hinblick auf den Erzfeind Frankreich“, sagt Wagner, der Menschenfreund, einmal. Das ist stark.
Doch am stärksten ist Uwe Timm dort, wo er als Romancier glänzt und die Aufarbeitung, die Akte des Antialkoholikers Ploetz hinter das Erzählen zurücktritt („Ihm, der für alles Verstand und Willen verantwortlich machte und stets das Prinzip von Ursache und Wirkung walten sah, fehlte die Vorstellung, es aber präzise Beschreibung der Weimarer Zeit. Auch da arbeitet sie politische und weltanschauliche Strömungen akkurat heraus, packt den Zeitgeist ins Zitat: „Man kann doch das jüdische Finanzkapital nicht verschweigen, wenn es um soziale Fragen geht“, tönt da ihr Freund, Werbefachmann, Student wie sie, und Leser von „Der nationale Sozialist“. Kommilitone Friedrich hingegen gibt sein Studium auf, um sich in Berlin am Straßenkampf gegen die Sa-truppe zu beteiligen. Luise mahnt, er verschwende sein Talent, er hält dagegen: „So seid ihr eben, ihr sitzt abgeschieden von der Welt in Dessau und macht euer Kunsthandwerk für die Bourgeoisie.“
Enzensberger rast durch die Jahre, auch deswegen bleibt „Blaupause“im Grunde eine Skizze. Aber eine, mit der sie das Wesentliche einfängt. Nicht Luise, sondern das Bauhaus selbst ist der eigentliche Protagonist des Romans. Ein Hort der Moderne, wobei es nicht lange könnte eine Wollust im Selbstvergessen liegen. In der allmählichen Selbstauslöschung.“). Wenn der Leser mit den Augen des jungen Hansen das verwüstete Deutschland bereist, wo sich zwischen Überlebenswillen und Improvisation Opportunismus und Ausblenden von Schuld ausbreiten, wird die Atmosphäre jener Stunde Null plastisch. Michael Hansens Tagebucheinträge, seine Amouren, die aller Geschichtswunden zum Trotz gnadenlos schöne Natur am Ammersee, wo er in einer beschlagnahmten Villa lebt …
Die Meisterschaft Uwe Timms, der sich schon in früheren Büchern intensiv mit Weltkrieg und Stunde Null befasst hat („Am Beispiel meines Bruders“, „Die Entdeckung der Currywurst“), zeigt sich in Passagen wie diesen, da er den jungen Hansen auf Coburg blicken lässt: „Die judenfreie Stadt. Was trieb diese Leute an? Es sieht doch alles so nett und adrett aus. Der gelbbraune Sandstein der Häuser, Blumen vor den Fenstern, das Grau, zuweilen ins Dunkelgrün spielend, der Schieferdächer. Aber vielleicht ist es eben das, diese Nettigkeit, der eine Geducktheit entspringt, etwas Uneingelöstes, Selbstgerechtes, den Hass suchendes.“Timms Roman ist ein Plädoyer für das Individuum, gegen
„Ikarien“ergründet, wie aus einem Idealisten ein Nazi und Rassentheoretiker wurde
dauert, bis Luise den Muff entdeckt. Vom Meister Itten wird sie nach dem Vorkurs dorthin geschickt, wo Frauen im Bauhaus bevorzugt landen: nicht zu den Architekten, stattdessen in der Weberei. Begründung: Nicht nur sie, sondern viele Frauen hätten ja Probleme mit dem dreidimensionalen Sehen. So rennt die ehrgeizige Studentin gegenwände, derweil es in ihrem Innerem gärt: „Ich will die Zukunft bauen und die Vergangenheit abreißen…“
„Blaupause“handelt daher vor allem von einer Ernüchterung. Einer Entzauberung. Luise arbeitet sich bis zum Ende an diesen Machofiguren ab, sucht vergeblich nach Anerkennung: Angefangen vom Vater, einem unzugänglichen Patriarchen, der die Tochter zwischenzeitlich zurück nach Berlin zitiert und auf eine Hauswirtschaftsschule schickt, bis hin zum Übervater Walter Gropius: Auch der ist dann – doch überraschend – sehr viel kleiner als gedacht. das Kollektivistische. Skeptisch begegnet er Utopien, denen das Prinzip wichtiger wird als das menschliche Maß. Gegen die Perfektion setzt Timm Zweifel, Vielfalt, Gewissen, Freiheit. Zu den mörderischen Umtrieben der Nazis findet er Sätze, die nachhallen, schreibt von der „Lust, der tiefen Lust der Macht, sich für die eigene Sterblichkeit durch das Töten anderer zu rächen“.
Mit der Figur des alten Wagner, ein bescheidener Intellektueller, den eigenes Denken und Empfinden gegenüber Verbrechen und Pathos imprägnieren, zeigt Timm, welchen Weg man auch hätte nehmen können. Der junge Us-soldat Hansen und seine Kameraden sehen Verdrängung und Beschönigungen als Nährboden für den Wiederaufbau des geschlagenen Landes. „George hatte recht, die Schuldigen waren die überwältigende Mehrheit. Die Gerechten nur eine Handvoll, in der Sprache der Bibel, darunter dieser Alte, der sich in einen Bücherkeller zurückgezogen hatte.“
In einem Geniestreich lässt Timm seinen Roman enden. Eine Party im Hause der Familie Ploetz. Es gibt Bowle – angemacht mit dem Alkohol, in den die Präparate des Zuchtforschers eingelegt waren. Das Gift, es wirkt weiter. Uwe Timm: Ikarien Kiepenheuer & Witsch, 512 Seiten, 24 Euro
Das Bauhaus, gelungen skizziert